Sinnliches Erwachen
Herzen zerrte er nach vorn, was auch immer er da in der Hand hielt. Weiße, golddurchwirkte Federn boten sich seinem Blick dar, dicke Sehnen, stark und ohne Narben. Er vergaß zu atmen, fiel erneut auf die Knie. Wieder zog er, doch das Anhängsel blieb festgewachsen, spannte unter seinem Zug, sandte denwundersamsten Schmerz durch seinen Leib.
Flügel. Er hatte Flügel.
Mit wild durcheinanderwirbelnden Gedanken stand er auf. „Danke. Danke!“
Wie durch einen Nebel ging er zur Tür, doch sobald er hindurch war, nahm er Tempo auf. Kurz darauf rannte er bereits, passierte das Eingangstor, war draußen, stürmte über den gepflasterten Pfad, erreichte den Rand der Wolke …
Und fiel.
Koldo breitete die Flügel aus. Sie fingen eine Luftströmung auf, verlangsamten seinen Sturz zu einem ebenmäßigen Dahingleiten. Er warf den Kopf zurück und lachte, erfüllt von purer Freude. Er flog! Auf und ab, auf und ab schlugen die Flügel. Nein, nicht „die“ Flügel. Seine Flügel. Seine. Sie gehörten zu ihm. Und niemand würde sie ihm wegnehmen können.
Peitschend fuhr der Wind über seine Haut, durch seine Federn. Er schoss so hoch, wie er konnte, durch immer kältere Luft. Er tauchte bis tief über den Erdboden, spürte die Wärme, bevor er abdrehte und wieder aufwärtsraste. Wolkendunst hüllte ihn ein, kühl und feucht, und Vögel flogen an seiner Seite. Übermütig lachend, schlug er Purzelbäume in der Luft.
Nie zuvor war er so unbekümmert gewesen.
Was würde Nicola denken, wenn sie ihn sah? Er malte sich aus, wie sie zu Hause saß, in ihrem Zimmer, auf dem Bett, und auf ihn wartete. Sie würde lächeln, sie würde nach Luft schnappen. Sie wäre überwältigt angesichts der Schönheit seiner Flügel. Und warum auch nicht? Seine Federn strahlten in reinstem Weiß, durchzogen von herrlichen Strömen aus geschmolzenem Gold.
Sie würde die Erste sein, die sie berührte.
Er flog, bis die vergessenen Muskeln an seinem Rücken von der Anstrengung brannten, bis sie nicht viel mehr ertragen konnten. Bis er Krämpfe in den Flügel bekam, sie sich weigerten, sich noch einen einzigen Zentimeter zu bewegen, und er zu stürzen begann. Kurz vor dem Aufprall teleportierte er sich auf den Vorhof seiner Ranch. Die Landung war härter, als er gewohnt war, und er musste sich abrollen. Staub und Gras verfingen sich in seinem Bart, seinen Kleidern und seinen Federn.
Im selben Augenblick, als er zum Stillstand kam, sprang er schon wieder auf und rannte ins Haus. Keine Spur von Zacharel, ebenso wenig von Axel. Laila lag schlafend in ihrem Zimmer. Endlich barst er durch die Tür zu Nicolas Zimmer. Sie saß auf der Bettkante und sprang auf, als sie ihn sah. Sie war … aufgebracht.
Er spürte sein Grinsen verblassen, seine freudige Erregung versiegen. „Was ist los? Ist was passiert?“
Blinzelnd fokussierte sie seine Flügel. „Dazu kommen wir noch. Aber vorher, wie …?“
„Du bist nicht verletzt?“
„Nicht körperlich, nein.“
Seine Begeisterung kehrte zurück, und er wirbelte herum. „Die Flügel waren ein Geschenk.“ Freude erfüllte ihn, als er nach den Flügelspitzen griff und seine neuen Gliedmaßen zu ihrer vollen Spannweite ausbreitete. „Fass sie an. Sie sind echt.“
Sie streckte die Hand aus, fuhr mit den Fingerspitzen über den oberen Bogen, strich durch das Gefieder hinab. Unwillkürlich schloss er die Augen und sog das Gefühl in sich auf. Selbst als er noch ein Kind gewesen war, hatte niemand außer seiner Mutter je seine Flügel berührt, und nie auf diese Weise. Niemals so sanft, so zärtlich.
„Sie sind wundervoll“, sagte sie. „Aber es fällt mir irgendwie schwer, sie zu genießen, während ich weiß, dass du eine Frau in dem Schuppen hinterm Haus eingesperrt hast, aber keine Ahnung habe, was sie da zu suchen hat.“
Er fuhr herum, und jegliche Euphorie verpuffte. Sie wusste es. Du hast es so gewollt, rief er sich in Erinnerung. Er hatte gewollt, dass sie diese Seite von ihm kennenlernte. Ihn kennenlernte, alles an ihm. Und dass sie trotzdem mit ihm zusammen sein wollte.
„Sie hat von mir verlangt, sie freizulassen.“
„Aber das hast du nicht getan“, nahm er ihre nächsten Worte vorweg. Das konnte sie nicht. Es gab keine Tür.
„Habe ich nicht.“ Ihre Hand flatterte zu ihrem Hals, rieb über ihre Kehle. „Wer ist sie?“
Stumm beobachtete er, wie eine Feder herabschwebte und auf dem Boden landete. Er musste gegen eine Woge der Furcht ankämpfen. Was, wenn Nicola ihn für ein
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