Sintflut (German Edition)
neben sich, er nimmt Platz. Nach einigen Minuten schon streichelt die Frau seinen Oberschenkel, küsst ihn auf die Wange und lehnt den Kopf an seine Schultern. Die Kellnerin bringt den beiden Bier und Erdnüsse. Dann blickt sie mit harten Knopfaugen über die kleine Schar ihrer Gäste. »Da ist viel Verbitterung«, würde ein Therapeut zu ihr sagen, aber sie kann sich keinen leisten. Außerdem braucht sie nur in den Spiegel zu schauen, dann sieht sie es selber. Ich stelle mir vor, wie sie nachts erschöpft nach Hause kommt. Wie ihre Füße schmerzen, auch noch, nachdem sie sich hingelegt hat. Wie es morgen wieder so sein wird. Morgen und alle Tage, bis das Leben vorbei ist.
Zu alldem gibt es Livemusik. Die vier Musiker spielen: Singing in the rain , Feelings und New York, New York . Als alle so aussehen, als wären sie kurz vor dem Einschlafen, stellt der Pianist sein Keyboard auf Handbetrieb um. Ich verstehe nicht viel von Musik, aber was die Männer jetzt spielen, verändert alles. Das trübe Rinnsal der Töne hat sich plötzlich in einen reißenden Gebirgsbach verwandelt.
Ich zum Beispiel bin schüchtern. Alles, was nach dem Gegenteil aussieht, ist jahrelanges Training in einer Welt, in der man mit Schüchternheit zum Scheitern verurteilt ist. Aber es gibt Situationen, in denen andere Regeln gelten. So eine Situation ist jetzt, denn ich stehe einfach auf und tanze. Genauso die Frau in Rot, die ihre Schuhe abstreift und ihren Freier, das Bier und die Erdnüsse stehen lässt.
Die Tanzfläche ist groß und leer, wir können uns frei bewegen. Ich nähere mich meiner Partnerin mit kleinen Schritten, spiele den Liebhaber, der die Begegnung sucht, aber gleichzeitig Abstand hält. Die Musik wird schneller, unsere Tanzfiguren kühner, wir wollen mit dem Temperament der Musiker mithalten. Es ist Folklore. Aber ich meine nicht das, was in der Fußgängerzone aufgeführt wird oder im Musikantenstadl zu hören ist. Ich meine die wilde Urform. Diese Musik übersetzt Trauer, Freude, Lust und Tod in eine Sprache, die jeden zu berühren vermag: Dirnen und Dichter, Maurer und Minister, Verbrecher und Heilige.
Eine Familie mit drei kleinen Kindern kommt herein. Sie haben sich Pizza von draußen mitgebracht, die sie nun hier im Hotel verzehren. Der Pianist schaltet den Melodiencomputer wieder ein. »Good Dance«, bemerkt meine Partnerin. Warum zücke ich keinen Hundertmarkschein, löse sie bei ihrem Freier aus und lade sie auf ein Bier ein? Kann ich das einfach machen? Würde sie meine Einladung falsch verstehen? Würde ich ein Bier nach dem anderen trinken und morgen einen dicken Kopf haben? Ich gehe auf mein Zimmer. Wer soviel fragt, kann nicht mehr spontan sein.
13
Ich wollte früh aufstehen, aber der Wecker hat versagt. Seinen Job haben zwei Hubschrauber übernommen, die vor dem Hotel landen und wieder abfliegen. Ich ziehe mich an, brauche ewig, fahre zur Eingangshalle und halte nach Akan Ausschau. Die Rezeptionistin winkt mir schon von Weitem mit einem Blatt Papier zu. Es ist ein Fax von Akan.
Das Papier ist dünn, die Buchstaben blass und zu allem Überfluss geht ein fingerbreiter schwarzer Balken mitten durch, Schmutz auf dem Überträgerglas des Faxgeräts. Ich muss mir was zusammenreimen, aber es geht. Akan schreibt, er könne nicht kommen und ich solle allein weiterfahren. Vor dem Hotel parke ein rotes Auto mit weißer Fahrertür, das sei für mich. Schlüssel, Papiere und Straßenkarte lägen im Handschuhfach. Dann schreibt er wörtlich:
Wann ich das letzte Mal so hektisch meine Sachen zusammengepackt habe, weiß ich nicht. Nach wenigen Minuten sitze ich im Auto und fahre los, aber außer Sichtweite des Hotels halte ich wieder an. Warum lasse ich mich nur so herumscheuchen? Ich habe nicht einmal gefrühstückt und halte an einem Stehcafé, wo es heißen Kaffee und süßes Gebäck gibt. Gaine Banig , würde der Erlanger sagen.
Wie haben Fleischmann und Anna so schnell herausgefunden, wo ich bin? Wieso haben sie ein gemeinsames Zimmer? Blöde Frage, aber ich wundere mich trotzdem. Und die anderen Presseleute kommen gleich mit dem Hubschrauber. Was soll das Theater? Meine Laune bessert sich nicht, als ich die vorgesehene Fahrtroute betrachte. Es sind nur rund hundert Kilometer bis nach Slobozia, in spätestens zwei Stunden bin ich da. Erst heute Abend jedoch will Akan dorthin kommen. Was soll ich da die ganze Zeit machen?
Nach Slobozia zieht sich auf der Straßenkarte eine Bleistiftlinie in
Weitere Kostenlose Bücher