Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sintflut (German Edition)

Sintflut (German Edition)

Titel: Sintflut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Schulze
Vom Netzwerk:
sind ganze Generationen von Kindern, die dem Besucher ihre Arme entgegen strecken und Kugelschreiber wollen. »School Pen«, sagen sie und halten die Hand auf. Manche sagen auch »Bonbon« oder »Money«. Je mehr Touristen Jahr für Jahr kommen, umso fordernder wird der Tonfall. Und irgendwann hagelt es Steine, wenn man einfach weitergeht.
    In Dunareni gibt es keine Verkehrsschilder, keine Reklametafeln, keine Telefonzellen, kein Gasthaus, keinen Laden, keine Bushaltestelle. Und natürlich kein Schild, auf dem steht: ›Zur Ausgrabungsstätte der Hamangia-Kultur nach 50 Metern rechts abbiegen‹. Niemand spricht Deutsch oder Englisch. Die Menschen arbeiten wie ihre Vorfahren im Haus und auf den Feldern. Was schert sie die Vergangenheit? Die Zukunft ist Sorge genug.
    Ich fahre weiter an der schönen blauen Donau entlang. Sie ist wirklich blau. Reiher und Kraniche stehen reglos in Ufernähe und staksen scheinbar unentschlossen ein paar Schritte vorwärts. Gänse und Enten schwimmen in kleinen Gruppen auf dem leicht gekräuselten Wasser. Und noch nie habe ich so viele Störche gesehen.
    Auf breiten Sandwegen fahren Pferdewagen bis zum Wasser hinunter. Lehmziegel liegen zum Trocknen in der Sonne. Eine Familie ist damit beschäftigt, sie zu formen, zu wenden und herausschauende Strohhalme abzuschneiden. Die Luft riecht nach frisch gebackener Erde. Kinder baden im Fluss, manche schwimmen weit hinaus. Das andere Ufer ist fern, aber erreichbar. Auch dort nichts als Pappeln, Schilf und Sandbänke, die in das träge dahin fließende Wasser ragen.
    Ich stelle mir vor, wie die Menschen nach der Sintflut auf der Flucht sind. Sie haben gerade erlebt, wie die Sintflut ihre Existenz vernichtet hat. Sie fürchten sich und wollen nur noch auf Bergen leben. Andererseits brauchen sie das Wasser. In diesem Zwiespalt wandern sie auf der Suche nach einer neuen Heimat an der Donau entlang. Es ist Sommer, der Fluss ist breit und friedlich. Irgendwann bleiben sie an einer besonders schönen Stelle stehen und sagen: »Lasst uns hier rasten. Morgen ziehen wir weiter. Oder auch nicht.«
    Der Boden erweist sich als gut, das Klima ist mild. Es gibt Wasser, aber die Gefahr, die von ihm ausgeht, scheint gering. Der Fluss tritt über die Ufer, aber das Hochwasser kommt und geht. Ein Fluss ist anders als ein See. Ein Fluss hat ein fernes Ziel. Ein See dagegen ist das Ziel. Alles fließt in ihn hinein und nichts aus ihm heraus. So könnten die Menschen gedacht und schließlich Vertrauen zu dem Fluss gefasst haben.
    Sie haben alles, was sie brauchen, um hier neu anzufangen. Sie haben Lehm und Binsen, sie haben Saatgut und saftiges Ackerland. Was sie säen, gedeiht. Was sie ernten, reicht über den Winter. Es bleibt sogar noch Saatgut für das nächste Frühjahr übrig. Anfangs fertigt jeder Bauer seine Vorratskrüge selbst. Bald ist die Ernte reich genug, um einen Teil gegen Vorratskrüge zu tauschen, die ein Töpfer gemacht hat, der nun seinerseits nicht mehr aufs Feld muss, weil er sein Essen von den Bauern bekommt.
    Hier in Dunareni lebte irgendwann nach der Sintflut ein großer Künstler. Unter einer nicht zu heißen Sonne, erfrischt von einer sanften Brise, die das Schilfrohr wiegt und in den Blättern der Bäume raschelt. Am Flussufer gibt es Ton. Er formt eine Schüssel, einen Krug, einen Teller. Er formt einen Mann und eine Frau. Er ist der Meister. Als er in hohem Alter stirbt, legen ihm seine Kinder zwei seiner schönsten Werke ins Grab. Für das Jenseits, in dem sich der Tote nun zurechtfinden muss.
    Das Jenseits ist die Nachwelt, und die Nachwelt bin ich, eine Pilgerin aus der Neuzeit. Das Grab des Meisters kann ich nicht finden, aber ich bin in seiner Nähe und die Donau glitzert in der Nachmittagssonne. Ich habe das Auto abgestellt und mich ans Ufer gesetzt. Genauso könnte der Meister sich hier ausgeruht haben, ich kann sehen, was er sah, denn es ist hier noch genau wie vor 7000 Jahren. Es gibt keinen Damm, keine Brücke, keine Flussbegradigung, keine Schleuse, keine Neubausiedlung, keinen Fahrradweg, keine Tankstelle, keinen Parkplatz für das nächste Shoppingcenter. Es gibt nichts. Und während mir eine Träne der Rührung über die verstaubte Backe läuft, kommt ein Mann aus dem Nirgendwo der kleinen Trampelpfade, die diese schöne Uferlandschaft durchziehen.
    Es ist Birgul Schmitzig. Er winkt mir zu und kommt näher. In der rechten Hand trägt er eine Reisetasche, in der linken einen Schirm, der ihn vor der Sonne schützt. Trotz

Weitere Kostenlose Bücher