Sintflut (German Edition)
Hieroglyphen«, ruft sie aus.
Sie stellt die Tafel zurück und nimmt sich die nächste. »Keilschrift«, stellt sie aufgeregt fest. Dann begutachtet sie die dritte Tafel. »Du meine Güte, das sind Symbole aus dem Industal«, ruft sie aus. »Niemand hat diese Schrift je entziffert. Schau, da ist der Wasserbüffel, ein immer wiederkehrendes Zeichen, genau wie Nashorn und Elefant.«
»Ist das denn eine Schrift?«
»Keine Buchstabenschrift wie bei uns, aber es sind Texte. Die Industal-Kultur blühte um 2500 vor Christus. Man fuhr zur See, trieb Handel mit Mesopotamien und Kreta. Um 1800 vor Christus marschierte ein kriegerisches Steppenvolk ein. Hier und da kam es zu Kämpfen, doch die Sache war schnell entschieden. Der Niedergang der Industal-Kultur hatte wahrscheinlich schon begonnen, bevor die Eroberer kamen.«
Paula nimmt die vierte Tafel. Im Schein der Fackel kann ich sehen, wie sich ihre Augen weiten. »Hast du schon mal was von der Scheibe von Phaistos gehört?«, fragt sie schließlich.
»Ja. Max hat mir davon erzählt.« Der erneute Klang seines Namens fährt mir in die Glieder. Ich fühle mich ausgehöhlt wie diese Schatzkammer, nur dass in mir keine Schätze mehr verborgen sind. Max hat alles mitgenommen.
Ich denke an einen Abend zurück, als unsere Welt noch in Ordnung war. Max zeigte mir in einem Buch die Scheibe von Phaistos. »Eins der großen Rätsel des Altertums. Stell dir vor«, erklärte er mir, »die haben schon lange vor uns die Idee gehabt, zu drucken, statt zu schreiben. Von jedem Zeichen gibt es einen Stempel, denn alle Zeichen sehen gleich aus. Bei uns kam erst Gutenberg wieder auf diese Idee.«
»Ja«, meint Paula und starrt gebannt auf die Tafel, die sie in den Händen hält. »So etwas hat Max immer fasziniert.«
»Er liebt Rätsel«, sage ich traurig, weil mir die Freude einfällt, mit der er mir von der Scheibe erzählte. »Die Schrift auf der Scheibe wurde nie entziffert. Max hält sie für eine Art Bilderbuch, eine Gedankenstütze für einen reisenden Erzähler.«
»Interessante Theorie. Auf Kreta wurde nie etwas Vergleichbares gefunden, und ein reisender Erzähler würde erklären, wie das Ding auf die Insel kam.«
Paula zeigt mir die Tafel. Ich erkenne einzelne Zeichen darauf wieder, aber andere habe ich nie zuvor gesehen.
»Niemand konnte bisher die Scheibe von Phaistos lesen, aber damit ist es jetzt vielleicht vorbei«, sagt Paula heftig. Ihre Stimme zittert ein wenig. Ich spüre ihre Erregung und bin selber erregt, weil wir das hier gefunden haben. Wir beide, Paula und ich. Völlig unerwartet. Eine ganz neue Dimension.
»Vier Paare, die sich die Hand reichen. Vier Schriften, ein Text«, raunt Paula mir zu, als ob es sonst niemand hören sollte, dabei wird sie es bald aller Welt vortragen, falls wir hier wieder rauskommen. »Die Paare könnten die symbolischen Urfamilien der ersten vier Hochkulturen sein: Ägypten, Kreta, Mesopotamien und Industal. Sie alle haben die Sintflut überlebt. Und weißt du, was die Tafeln bedeuten könnten? Wenn der Inhalt auf jeder Tafel derselbe ist, dann können endlich die Scheibe von Phaistos und die Industal-Schrift übersetzt werden. Du meine Güte, seit dem Stein von Rosetta gab es keinen solchen Fund mehr.«
Ich halte die Fackel vor eine andere Nische. Darin stehen drei pyramidenförmige Objekte mit einer kleinen Kugel obendrauf. Paula fährt mit dem Finger über die Spitze des mittleren, um den Staub wegzuwischen. Ein murmelgroßer Diamant kommt zum Vorschein und funkelt uns an. Der Stein ruht auf einem schlanken Zylinder, der in der Spitze der Pyramide steckt. Die beiden anderen Objekte tragen einen Smaragd und einen Rubin. Sie sind etwas kleiner und leicht versetzt zueinander aufgestellt. Ich habe sie schon einmal gesehen. Nur nicht aus Gold, nur nicht so klein. Es sind die Pyramiden von Gizeh. So schön waren sie vielleicht, als sie neu waren. In den Nischen daneben sind ein Löwe, ein Falke, ein Schreiber, ein Bauer mit Pflug und Ochsen, eine Töpferwerkstatt, Musiker beim Konzert und ein Schiff mit Ruderern versammelt.
Paula zündet sich eine eigene Fackel an. »Oh schau nur«, jubelt sie und klatscht vor Entzücken in die Hände, als sie eine andere Reihe von Wandnischen beleuchtet. »Das hier ist die Zikkurat von Ur, die Säulenhalle von Uruk, zwei Männer, die zusammen wandern, Gilgamesch und sein Freund Enkidu. Mesopotamien stellt sich vor.«
Es ist eine Art Weltarchiv. Alles Mögliche ist ausgestellt: Situationen des
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