Sinuhe der Ägypter
Löwenschwänze, wo jeder sein Maß Korn und Bier erhält.«
Aus allen Teilen Ägyptens strömten denn auch zahlreiche Männer nach Memphis, die teils vom Hunger getrieben oder, nachdem sie Atons wegen Heim und Familie verloren, gegen alles gleichgültig waren oder nach Beute und Abenteuer dürsteten. Ohne die Priester zu fragen, begnadigte Haremhab alle, die am Aufbau der Macht Atons teilgenommen hatten, und befreite die Sklaven aus den Steinbrüchen, um sie zum Kriegsdienst heranzuziehen. So glich Memphis bald einem großen Feldlager, das Leben wurde unsicher, in den Freudenhäusern und Bierschenken ereigneten sich allabendlich Prügeleien, die zu Verletzungen führten, und die friedliebende Bevölkerung schloß sich in ihre Häuser ein, wo sie in Furcht und Beben lebte. Aus den Werkstätten aber, wo die Schmiede Pfeil- und Speerspitzen anfertigten, ertönten dröhnende Hammerschläge, und so groß war die Furcht vor den Hetitern und der Haß gegen sie, daß sogar arme Frauen ihren kupfernen Schmuck zur Herstellung von Wurfgeschossen opferten.
Von den Meeresinseln und von Kreta kamen immer noch Schiffe nach Ägypten; des Krieges wegen kaufte sie Haremhab zwangsweise auf und nahm ihre Kapitäne und Mannschaften in seinen Sold. Sogar kretische Kriegsschiffe kaperte er und zwang ihre Besatzungen, Ägypten zu dienen; denn diese Schiffe fuhren ziellos von Hafen zu Hafen, um nicht nach Kreta zurückkehren zu müssen, da sie nicht wußten, was dort vor sich ging. Es wurde nämlich behauptet, ein Sklavenaufstand sei auf Kreta ausgebrochen, die auf der Hochebene gelegene Stadt der Vornehmen habe wochenlang lichterloh gebrannt und der Feuerschein sei von weit draußen auf dem Meer sichtbar gewesen. Doch wußte niemand etwas Bestimmtes über die Ereignisse, und die kretischen Seeleute logen nach ihrer Gewohnheit eine Menge Geschichten zusammen, denen niemand Glauben schenkte. So behaupteten einige, die Hetiter hätten Kreta angegriffen; doch kann ich mir nicht vorstellen, wie das geschehen sein sollte; denn die Hetiter sind bekanntlich kein Seefahrervolk. Andere wiederum erzählten, ein unbekanntes, weißhäutiges Volk sei von Norden gekommen, um die Insel zu plündern und zu zerstören, und es sei diesem gelungen, die Flotte Kretas zu besiegen, weil sich der größte Teil der Kriegsschiffe auf hoher See befand, um den Seeweg nach den syrischen Küsten zu verteidigen. Einstimmig erklärten diese Kreter, das alles käme daher, daß der Gott Kretas tot sei. Deshalb traten sie gern in ägyptische Dienste, während wiederum die nach Syrien abgegangenen Schiffe sich Aziru und den Hetitern zur Verfügung stellten. Jedenfalls zog Haremhab großen Nutzen aus der völligen Verwirrung, die auf dem Meer herrschte, wo alle gegen alle kämpften, um sich Schiffe zu kapern. Auch war in Tyrus ein Aufstand gegen Aziru niedergeschlagen worden, und die Aufständischen, die sich retten konnten, waren auf dem Seeweg nach Ägypten geflohen, wo sie in Haremhabs Dienste traten. Auf diese Art gelang es diesem, sich eine Flotte zu verschaffen und sie mit erfahrenen Mannschaften auszurüsten. Doch was das alles kostete, will ich gar nicht auszurechnen versuchen; denn das Bauen und Ausrüsten von Kriegsschiffen fordert mehr Gold als jeder Landkrieg.
Während sich dies alles in Ägypten zutrug, hielt Gaza in Syrien immer noch stand, und als die Ernte eingebracht war und der Strom zu steigen begann, setzte sich Haremhab mit seinen Truppen vom Memphis aus in Bewegung. Sowohl auf dem Landweg als über das Meer sandte er seine Boten durch den Ring der Belagerer, und ein Schiff, das im Dunkel der Nacht Getreidesäcke in den Hafen von Gaza beförderte, brachte gleichzeitig Haremhabs Botschaft: »Haltet Gaza! Haltet Gaza um jeden Preis!« Während die Sturmböcke gegen die Tore der Stadt dröhnten und die Hausdächer brannten, ohne daß jemand Zeit gefunden hätte, sie zu löschen, konnte plötzlich ein Pfeil mit dem Befehl »Haremhab verlangt, daß ihr Gaza haltet!« gesaust kommen. Und als die Hetiter in verschlossenen Lehmkrügen Giftschlangen über die Mauern schleuderten, geschah es, daß sich ein Krug beim Bersten als mit Getreide gefüllt erwies, in dem die Botschaft steckte: »Haltet Gaza!« Wie Gaza der Belagerung durch die vereinten Streitkräfte Azirus und der Hetiter standhalten konnte, ist mir ein Rätsel; aber der mürrische Befehlshaber der Festung, der mich einst zu meiner Schmach in einem Korb hatte die Mauer hinaufziehen lassen, verdiente
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