Sinuhe, Sohn der Sykomore 1
einmal zum Zimmer von Anuket. Er würde den Weinkrug an sich nehmen. Er war sein einziger Beweis.
Als er den Raum betrat, erkannte er erleichtert, dass der Leichnam fort war. Doch auch der Krug war nirgends zu sehen. Ansonsten herrschte im Zimmer noch dieselbe Unordnung wie am Morgen. Hastig hob Sinuhe einige Kleider an.
Nichts!
Er durchsuchte jeden Winkel des Zimmers, aber es war vergeblich. Der Krug war ebenso fort wie die tote Frau. Selbst das Erbrochene hatte jemand sorgfältig aufgewischt.
Verdrossen suchte Sinuhe Anukets Dienerin auf. »Hast du im Zimmer deiner Herrin sauber gemacht? Etwas weggenommen?«
Erschreckt von dem harten Ton zuckte die Frau zusammen. »Nein, Herr. Niemand war dort, Herr, bis auf die Männer vom Haus des Todes.«
»Haben die etwas mitgenommen?«, wollte Sinuhe wissen.
»Ja. Die Herrin Anuket.«
Ungeduldig rollte Sinuhe mit den Augen. »Das versteht sich von selbst. Sonst noch etwas?«
»Haben sie etwas gestohlen? Fehlt etwas vom Schmuck? Ich habe nicht gesehen, dass sie etwas forttrugen außer der Herrin«, versicherte die Dienerin.
»Wer hat sauber gemacht? Wer war noch im Zimmer?« Sinuhes Fragen wurden immer drängender. Er schüttelte die Dienerin, als würden die Antworten so aus ihr herauspurzeln.
Die junge Frau brach weinend zusammen. »Nichts … Ich weiß nichts. Nicht schlagen, Herr!«
Entnervt ließ Sinuhe von ihr ab. Er verließ den Harem und schlug den Weg zu Chetis Haus ein. Warum hatte er den Krug nicht gleich an sich genommen? Das fehlende Beweisstück machte den Rat seines Vaters umso wichtiger.
* * *
Meret strahlte über das ganze Gesicht, als ihr Sohn zur Tür hereinkam. »Sinuhe! So eine Freude, dass du uns besuchst. Wie geht es dir – und Sati? Wo ist sie überhaupt? Ach, ich habe gar nichts anzubieten, warum hast du denn nicht Bescheid gesagt?«
Sinuhe unterbrach den Redefluss mit einer stummen Umarmung. »Es ist heute etwas geschehen. Ich brauche Vaters Rat. Ist er da?«, fragte er statt einer Begrüßung, so tief in Gedanken war er bei den rätselhaften Umständen von Anukets Tod.
»Geh nur in sein Zimmer. Er brütet noch über einem Protokoll, das er Pharao für morgen versprochen hat. Soll ich einen Diener zu Sati schicken, damit sie sich nicht wundert?«
»Danke, Mutter, das ist eine gute Idee.«
Meret strich sich besorgt übers Gesicht. Seit der Hochzeit hatte sie ihren Sohn nur wenig gesehen. Sie vermisste ihn, und ihn nun so bedrückt zu sehen war kein gutes Zeichen. Ob die Ehe nicht gut lief?
Sinuhe stand vor der verschlossenen Tür zu Chetis Arbeitszimmer. So drängend das Gefühl von Unheil auch gewesen war, das ihn hierher getrieben hatte – nun zögerte er. Wenn er sich das alles nur eingebildet hatte? Nein, er musste Gewissheit haben. Entschlossen klopfte er und betrat den Raum.
Cheti blickte hoch, verärgert über die Störung. Dann glitt ein Strahlen über sein Gesicht. »Sinuhe! Wie schön, dich zu sehen. Leider habe ich hier noch ein Weilchen zu tun. Bleibst du zum Essen?«
»Vater, mich führt eine ernste Angelegenheit zu dir. Ich bin mir unsicher, was ich tun soll. Ich …« Mutlos ließ er die Schultern fallen.
Erschrocken sprang Cheti auf und zog ihm einen Stuhl heran. »Setz dich erst einmal, dann berichte.«
Im Niedersinken registrierte Sinuhe, dass das Möbel noch aus dem Haus aus Waset stammte. Er erkannte die Kerbe, die sein Schreibkasten eines Tages darauf hinterlassen hatte. Dann nahm er allen Mut zusammen und erzählte seinem Vater flüssig und zusammenhängend, was geschehen war. Er verschwieg ihm aber seine eigenen Schlussfolgerungen und die Reaktion von Meketre, denn er wollte Chetis unvoreingenommenes Urteil hören.
Der Bericht hatte den alten Beamten ganz in seinen Bann gezogen. Sein Gesicht zeigte deutliche Anzeichen von Besorgnis. »Hast du Meketre dasselbe erzählt wie mir?«, wollte er wissen.
Sinuhe bejahte.
»Was hält er davon?«
Die Schilderung von Meketres Worten ließen Cheti unwillig aufgrunzen. »Leichengift? Wer hätte je davon gehört, dass Fliegen daran sterben? Sie ernähren sich nur von Aas. Nein, das ist Unfug. Wenn er das wirklich glaubt, ist er viel dümmer, als er es in seiner Stellung sein dürfte.« Cheti blickte seinem Sohn gerade ins Gesicht. »Du hast die Vermutung, Anuket sei vergiftet worden, nehme ich an?«
»So ist es, Vater.«
»Ich denke dasselbe, wenn sich alles so abgespielt hat, wie du sagst. Und davon gehe ich aus«, beeilte er sich hinzuzufügen, als er
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