Sinuhe, Sohn der Sykomore 1
Sinuhes aufkeimende Empörung sah. Er stand auf und ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. »Es gibt nur einen Grund, warum jemand die Konkubine töten würde: Meritamun«, sinnierte er. »Die anderen Konkubinen haben in Anuket sicher keine Gefahr gesehen, denn dass sie Pharaos Gunst erlangen würde, war ausgeschlossen. Ich glaube kaum, dass sie jemand so sehr gehasst haben könnte, dass nur ihr Tod Genugtuung brächte. Aber wenn jemand an die Prinzessin heranwollen würde … In ihrem Zustand war Anuket zwar empfänglich für Bestechungen – wie sonst sollte sie an den Wein gekommen sein? – aber sie war auch unberechenbar. Wer auch immer die Verschwörer sein mögen, sie haben mit ihr das Risiko beseitigt, dass ihre Pläne auffliegen.«
Sinuhe seufzte erleichtert. Sein Vater zog dieselben Schlüsse wie er. Er fühlte die Last der Verantwortung etwas leichter werden, jetzt, da er sie auf ein weiteres Schulterpaar verteilt wusste.
»Was mich wirklich beunruhigt, ist die Reaktion von Meketre«, sagte Cheti.
»Ja, je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass er etwas damit zu tun hat. Allein der Tod von Anuket sollte ihm eine Untersuchung wert sein. Und er müsste Amenemhet davon berichten, das gehört zu seinen Pflichten – es sollte ihm sogar ein dringendes Anliegen sein, denn als hoher Beamter müsste er alles tun, um Schaden von seinem Herrn abzuwenden. Ach, und eine der Frauen hat mir heute erzählt, Meketre habe Anuket jeden Abend besucht.«
Cheti stellte sich hinter seinen Sohn und umfasste dessen Schultern. So sah der junge Mann zwar nicht die besorgte Miene seines Vaters und das Stirnrunzeln, aber er hörte dessen Unruhe heraus, als er sagte: »Sei vorsichtig, Junge! Lass Meketre nicht sehen, dass du seine Ausführungen anzweifelst. Lass ihn nicht wissen, dass du das Zimmer untersucht hast, nachdem ihr euch unterhalten habt. Wenn er darin verwickelt ist, könntest du in Gefahr sein. Am besten gibst du vor, von deinen eigenen Ängsten in deiner neuen Position überwältigt worden zu sein.«
»Ja. Das wird das Beste sein. Soll ich Pharao nun alles erzählen, was meinst du?«
»Ich werde das tun. Du schreibst jetzt alles so auf, wie du es mir erzählt hast. Ich bringe den Bericht nachher zu Pharao, ich soll ihm sowieso noch das Protokoll überreichen. Das wird keinen Verdacht erregen. Wer weiß, wer dich bei Pharao sehen könnte. Es wäre zu gefährlich.« Cheti schob ihm einen leeren Papyrus hin.
Sinuhes Binse flog über den Papyrus. Ihm gegenüber saß sein Vater und beendete ebenso rasch seine angefangene Arbeit. In weniger als einer Stunde waren beide fertig und streckten ihre verspannten Rückenmuskeln.
* * *
An der Tür zu Amenemhets Privatgemächern wurde Cheti von einer Wache angehalten. Er bemühte sich, seine innere Anspannung zu verbergen und hielt die Papyrusrolle hoch, in welcher der Bericht von Sinuhe verborgen war. »Ich soll Pharao noch heute das Protokoll vorlegen.« Der Wachtposten nickte knapp und ließ ihn passieren.
Als die Tür sich mit einem dumpfen Laut hinter ihm schloss, atmete Cheti erleichtert auf. Er fragte eine Dienerin, wo der Pharao sei, und machte sich dann auf den Weg in Amenemhets Arbeitszimmer. Cheti war schon öfter in diesem privaten Raum gewesen, doch jedes Mal aufs Neue war er von dem nüchternen Einrichtungsstil überrascht, den sein alter Weggefährte bevorzugte. Der König konnte sich jeden nur erdenklichen Luxus leisten, dennoch war der Raum fast leer abgesehen von den hohen Regalen für Papyri, dem Tisch und zwei Stühlen. Statt üppiger Wandmalereien wie im Haus von Sinuhes Schwiegervater schmückte nur ein einfacher ockergelber Streifen die weißen Wände. Einzig eine Truhe in einer Ecke des Zimmers wies ein paar Intarsien aus Elfenbein auf. Cheti wusste, dass diese Truhe das Einzige war, das Amenemhet von seiner Mutter geblieben war. Sie hatte das Möbelstück aus ihrer Heimat im Süden mitgebracht, als sie Amenemhets Vater Sesostris geheiratet hatte.
»Ah Cheti. Du bringst mir das Protokoll? Es wundert mich, dass du dich so spät noch herbemüht hast. Morgen hätte doch auch gereicht, aber gut.« Der Herr der Beiden Länder griff nach der Papyrusrolle und stutzte, als eine zweite Rolle herausfiel. »Was ist das? Hast du zwei Ausfertigungen gemacht?«
»Nein, Majestät, hierbei handelt es sich um einen Bericht meines Sohnes Sinuhe, Schreiber von Meketre. Heute ist im Frauenhaus etwas
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