Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe
langen, schmalen Raum und verlangsamte ihren Gang nicht, ehe sie das eigentliche Bücherzimmer erreicht hatte. Ihr gefiel die Pinwand nicht. Hier hing Aleister Crowley zwischen John Lennon und Snoopy, und einer von den dreien schien ihr nicht zu behagen. Sie hatte nie durchblicken lassen, welcher es war …
Gleich neben der rothaarigen Studentin befand sich der Papierkorb. Sie fuhr zusammen, als etwas mit einem Knall in den leeren Aluminiumeimer fiel, und hob den Blick. Direkt an ihrer Seite stand Traude Gunkel.
„Unterstehen Sie sich, wieder herauszunehmen, was ich hineingeworfen habe!“, fauchte die Dozentin und spreizte die Finger beider Hände ab. Es sah irgendwie hexenhaft aus, wie ihre Finger sich nach hinten bogen, an jedem Gelenk ein bisschen.
Melanie blinzelte das faltige Gesicht an. „Ich soll mich … unterstehen? Oder mich nicht unterstehen? Äh, soll ich es nun herausnehmen oder nicht?“ Sie sagte das nicht, um sich in irgendeiner Weise gegen die Frau aufzulehnen. Sie hatte nur im ersten Moment Probleme, die Formulierung zu verstehen. Mit ihren Gedanken war sie noch bei ihrer Lektüre. Zudem war sie schläfrig geworden und beinahe über dem Buch eingedöst.
Die Gunkel schnaufte. „Es wird wohl Zeit, mit dem Rektor einmal ausführlich über Sie zu reden, Frau Kufleitner“, sagte die Alte.
„Ach? Tun Sie das nicht ohnehin schon die ganze Zeit? – Meinetwegen. Richten Sie Werner einen schönen Gruß aus, und sagen Sie ihm, ich würde mich weigern, im Müll herumzuwühlen. Mal sehen, welche disziplinarischen Schritte er unternimmt.“ Sie schüttelte den Kopf und murmelte dann verstört vor sich hin: „Ich begreife gar nicht … worüber reden wir eigentlich?“
„Über ein großes Missverständnis!“
Melanie richtete sich am Tisch auf und klappte ihr Buch zu. „Sie müssen schon entschuldigen“, begann sie entnervt, „aber ich bin keine studierte Germanistin, und die Formulierung von eben hat mich …“
„Ich rede nicht von diesem Missverständnis. Ich spreche über die bedauerliche Tatsache, dass in diesem Haus die Studenten der Illusion unterliegen, die Dozenten seien ihre Duzfreunde oder ihr Dienstpersonal. Gerade Sie, Frau Kufleitner, haben sich in Ihrem noch jungen Leben einige Eskapaden geleistet, die mich an Ihrer Stelle etwas demütiger machen würden.“
„Habe ich das?“, fragte Melanie verwundert.
Traude Gunkel blieb ihr die Antwort schuldig, drehte sich auf dem Absatz herum und verließ die Bibliothek durch den Computerraum. Melanie starrte eine Weile ins Leere. Wovon hatte die Frau gesprochen? Von ihrem Autounfall vor zwei Jahren? Sicher, sie war zu schnell unterwegs gewesen, hätte ihren Leichtsinn jedoch um ein Haar mit dem Leben bezahlt. Würde sie das auf ewig von Personen vorgehalten bekommen, die sich für perfekt hielten? Oder meinte die Dozentin die Gefahr, in die sie Artur damals bei ihrem Waldspaziergang unabsichtlich gebracht hatte? Wusste sie überhaupt davon? Spielte sie vielleicht auf ihren riskanten Ausflug in das verborgene Kloster neulich an? Oder war es auch eine Eskapade, von einer geistig verwirrten Japanerin beinahe ins Jenseits befördert zu werden? Was gefiel Traude Gunkel an ihr nicht? Dass sie lebte, dass sich in ihrem Leben bisweilen etwas ereignete?
Die Studentin beugte sich zur Seite und warf einen Blick in den Papierkorb. Den Inhalt erkannte sie, ohne aufstehen zu müssen, und konnte ihn sogar ertasten, als sie den Arm in den Eimer steckte. Keine Frage, dass sie das Objekt herausnahm und näher betrachtete. Schließlich handelte es sich nicht um eine faulige Frucht oder um ein vollgeschnäuztes Taschentuch, sondern um ein Buch, und sie wäre nicht Melanie Kufleitner gewesen, wenn sie nicht interessiert hätte, welches Verbrechens sich ein Autor schuldig machen musste, um von dieser gestrengen Dame in den Müll befördert zu werden. Ohne den Verfasser zu kennen, glaubte sie sofort eine geistige Verbindung zu ihm zu spüren. Melanie zweifelte nicht daran, dass ihr eigenes Buch – falls sie je eines schreiben sollte – dasselbe Schicksal erwarten würde.
Es war ein kleiner Band mit einem dunkelroten, unbeschrifteten Glanzumschlag, bar jeglicher Gebrauchsspuren. Er lag schwer in der Hand, was an dem ungewöhnlich dicken Papier liegen mochte. Dementsprechend hatte das Buch dann auch nur achtzig Seiten. Auf der fünften Seite war der Titel verzeichnet:
„Magie – wie sie auf natürliche und unbewusste Weise wirkt“
Unter dem Titel
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