Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe
Konterfei so verunstaltet hatte.
„Frau Kapf“, begann Gerstschneider. „Sie fragen sich gewiss, warum ich Sie zu einer Stunde störe, wo, äh, in der es für eine Hausfrau sicherlich eine Menge Arbeit zu verrichten gibt. Um es kurz zu machen: Es ist mir ein persönliches Anliegen, im Zuge meiner Kandidatur für den Bürgermeister unserer Stadt gerade auch diejenigen Bürger aufzusuchen, die so gerne von den hohen Herren in der Politik … sagen wir einmal … übersehen werden. Ich möchte Ihnen beweisen, dass Walter Gerstschneider ein Bürgermeister sein wird, der die Anliegen gerade auch der … äh …“
„Dürfen wir reinkommen?“, erkundigte sich der Mann neben Gerstschneider in die Sprechpause hinein und fuchtelte mit einem Mikrofon herum. „Wir kommen vom Regionalfernsehen und würden gerne ein paar Bilder schießen.“
Frau Kapf, sprachlos und überwältigt, trat einen Schritt zur Seite und ließ die drei Herren eintreten. Der Besuch lief wie ein Film vor ihr ab, den man auf schnellen Vorlauf gestellt hatte. Sie versuchte, die Männer unbeschadet durch den schmalen, unaufgeräumten Flur zu geleiten und im Wohnzimmer auf jene Sitzmöbel zu verteilen, die am wenigsten mit Wachskreidezeichnungen verschmiert waren. Die erschrockenen, beinahe panikartigen Mienen der Herren beim Eintreten in dieses bunte, chaotische Reich, in dem nichts an seinem Platz stand und nichts so aussah, wie es anderswo aussah, übersah sie vollkommen. Sie überhörte auch das meiste von dem, was der Bürgermeisterkandidat ihr erzählte. Als er den Anblick der Wohnung etwas verdaut hatte, begann er sein Programm abzuspulen.
Er sprach von der Zukunft der Sozialwohnungen. Er sprach davon, dass die Gelder für ihre Renovierung durchaus vorhanden seien, jedoch zur Stunde von anderen, wesentlich irrelevanteren Plänen in Anspruch genommen seien. Frau Kapf, die nicht wusste, was irrelevant bedeutete, nickte nur verständnisvoll und wischte an einem Streifen eingetrockneter Fingerfarbe herum, der sich quer über den Tisch zog. Sie dachte nur an das verunzierte Plakat und daran, wie sie verhindern konnte, dass er es auf dem Rückweg zu Gesicht bekam.
Sie wurde mehrmals höflich aufgefordert, ihr Schicksal zu erzählen, doch sie tat es so ungeschickt, dass keiner der drei etwas davon verstand. Sie sprach von einem kleinen Alkoholproblem ihres Mannes, vergaß aber zu erwähnen, dass er seit zwei Jahren tot war. Sie sprach von drei männlichen und einer weiblichen Person, die sich die Wohnung teilten, ohne zu erwähnen, dass die männlichen Personen ihre Kinder waren. Sie sprach davon, dass sie manchmal sogar Gewalt anwenden musste, um in die Wohnung zu gelangen, erwähnte aber nicht, dass das Schloss klemmte.
„Ich glaub, Sie helfen mir bestimmt“, meinte sie zum Schluss. „Deshalb tu ich Sie auch wählen.“
Gerstschneider lächelte dankbar, obwohl er nicht genau begriffen hatte, wobei sie seine Hilfe erwartete. „Wenn Sie gestatten, lasse ich Ihnen einen kleinen Prospekt mit meinem Wahlprogramm hier, Frau Kapf.“ Jetzt, da er ihren Namen auswendig konnte, benutzte er ihn so oft wie möglich, als wäre er seit fünfzig Jahren ihr Nachbar. Er breitete ein buntes Faltblatt vor ihr aus, das angesichts der farbenfrohen Wohnung aber kaum zur Geltung kam. Ein kleines Foto von ihm lag noch zusätzlich bei. Er fixierte den Handzettel angestrengt, als fürchte er, er könnte ihn in dem bunten Gewirr aus den Augen verlieren, wenn er nur einen Moment seinen Blick davon löste. Aus der Innentasche seines Jacketts, das bereits die ersten Wachskreidespuren aufwies, zog er eine Brille und setzte sie auf. Warum er das tat, war unklar. Vielleicht wollte er der Frau etwas aus dem Prospekt vorlesen.
Sie stieß einen Schrei aus.
Es war eine runde Drahtbrille und sah der Kritzelei ihres Sohnes (Tommi?) auffallend ähnlich. Mit den schwarzen Bartstoppeln dazu wirkte der Kandidat jetzt haargenau wie die Fleischwerdung des entstellten Plakates. Frau Kapf starrte Gerstschneider nur noch mit großen, großen Augen an, ohne mehr auf seine Worte zu reagieren.
Der Kandidat bemühte sich, freundlich zu bleiben, doch irgendwann zuckte er die Schultern, und die drei Männer hatten es mit einem Mal sehr eilig. Die beiden mit Kamera und Mikro rafften ihre Kabel zusammen und verließen beinahe fluchtartig die Wohnung. Gerstschneider folgte ihnen und murmelte noch ein paar kurze, eingängige Wahlversprechen, als seien es Zauberformeln gegen den bösen
Weitere Kostenlose Bücher