Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe
seine Lippen, während er sprach, was sehr befremdend aussah. „Leider befindet sich der Film nicht mehr auf Falkengrund, und ich kann nur Vermutungen darüber anstellen, wo er ist. Ich tippe auf … Japan.“
Melanies Miene verriet ihre Enttäuschung. „Japan? Du hast ihn weggegeben?“
„Er wurde gestohlen. Vor gut drei Jahren hatten wir hier einen Einbruch. Der Dieb begann seine Suche unglücklicherweise in Sir Darrens Weinkeller. Dort hatten wir den Film in ein Geheimfach gesteckt, zusammen mit einem vermutlich wertlosen Bruchstück irgendeiner Skulptur. Es schien uns der sicherste Ort zu sein. Schließlich betrat außer Sir Darren niemand diesen Raum. Aber der Dieb verstand sein Handwerk und fand das Versteck sofort. Ich glaube nicht, dass er etwas Bestimmtes suchte. Er konnte nichts von der Existenz des Films wissen. Es war ein dummer Zufall. Der Polizei gegenüber musste ich natürlich behaupten, es wäre nichts gestohlen worden.“
„Und das war es, was du mir erzählen wolltest …“
„Ja, aber das ist noch lange nicht alles. Der Film ist nicht nur ein Film. Er ist mehr. Da drüben hängt noch ein Apfel!“
Melanie verdrehte die Augen und pflückte das kümmerliche Exemplar, auf das der Mann gezeigt hatte. Sie wechselten zum nächsten Baum.
„Der Film“, fuhr Werner fort, während er eine gute Stelle für die Leiter suchte, „hält nicht still. Damit meine ich, er verändert sich. Er ist nicht wie ein Film, sondern wie ein … Theaterstück, das immer und immer wieder aufgeführt wird. Auch bei der werkgetreusten Inszenierung schleichen sich über die Jahre hinweg Veränderungen ein.“
„Die Schauspieler werden älter oder durch neue ersetzt.“
„Das meine ich nicht. Die vier bleiben immer dieselben, und sie altern auch nicht. Aber ihre Bewegungen unterscheiden sich jedes Mal ein klein wenig.“
Die Studentin sah ihn ungläubig an, als würde er ihr einen Bären aufbinden.
„Am Anfang dachte ich natürlich, ich würde mich täuschen. Doch dann begann ich, den Ablauf schriftlich genauestens festzuhalten. Ich kann dir die Aufschriebe nachher zeigen, wenn du möchtest. Am auffälligsten sind die zeitlichen Schwankungen – einzelne Aktionen verschieben sich um mehrere Sekunden gegeneinander. Die Stimmen verändern sich. Schreie überschneiden sich manchmal, die sich vorher nicht überschnitten haben. Dinge, die zu sehen waren, werden unsichtbar, und umgekehrt. Jedes Mal, wenn ich mir das ansah, hatte ich hinterher die schlimmsten Albträume. Nicht nur wegen des Inhalts, nicht nur, weil ein Gespenst zu sehen war, das vier junge Menschen tötet. Auch, weil ich immerzu das Gefühl hatte, einen Blick auf etwas zu werfen, das nicht für Menschenaugen bestimmt ist. Es war kein Film mehr, Melanie, sondern etwas ganz anderes.“
„Und was war es?“
Er seufzte. „Ich habe nie einen Begriff oder eine Erklärung dafür gefunden. Aber Sir Darren ist Wissenschaftler. Er nannte es ein … Pseudojenseits.“
Die Studentin fuhr sich beiläufig durch die Haare, als ein Insekt vom Baum herabfiel. „Hat er auch erklärt, was er mit diesem Begriff meint?“
„Das ist so einfach zu verstehen, dass sogar ich es dir erläutern kann. Ich habe viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, in all den Jahren. Es gibt ein Diesseits und ein Jenseits – das ist die Grundlage des spiritistischen Denkens, nicht wahr? Stirbt ein Mensch, verlässt seine Seele den Leib und geht ins Jenseits ein, ins Reich der Toten. Ein Gespenst dagegen ist eine Seele, die sich nicht lösen kann und ganz dem Diesseits verhaftet bleibt. Oder zumindest ab und zu aus dem Jenseits ins Diesseits zurückkehrt. Mit diesen vier Filmemachern verhält es sich aber anders. Als sie getötet wurden, wanderten ihre Seelen nicht ins Jenseits hinüber. Sie blieben aber auch nicht in unserer Welt, sonst würden wir sie als Gespenster durchs Schloss spuken sehen. Ihre geistige Existenz setzte sich im Film fort. Wie ist so etwas möglich, wirst du fragen. Eine klare Antwort gibt es noch nicht. Dafür muss die gewaltige Energie verantwortlich sein, die die Erscheinung des Barons begleitete. Wir wissen nicht genau, was diese Energie physikalisch gesprochen ist, aber sie muss auf das Zelluloid des Films eingewirkt haben. Tote Materie verband sich dabei mit der Lebensenergie der Menschen, und innerhalb des Films entstand eine … eine Welt. Eine Welt mit eigenen Gesetzen, ein zyklisch ablaufender Zeitstrahl mit einem eng begrenzten räumlichen Rahmen. Wie
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