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Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe

Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe

Titel: Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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wirklich aus dem Osten kam, nicht ganz genau, denn seine Heimat lag ein einziges Grad nördlich der östlichen Himmelsrichtung, den winzigen Teil einer Drehung abseits der Stelle, wo die Sonne aufging. Das machte ihn so finster. Auf eine gewisse Weise war er dunkler als der Engel des Nordens, denn jener kannte die Sonne nicht, während dieser hier täglich von ihrem Anblick gereizt und angestachelt wurde, ohne sie jemals erreichen zu können.
    „Auch ich werde mein Versprechen halten“, sprach sie, und er schien zu nicken. Sie wunderte sich, dass er so ruhig war. Er wirkte wie jemand, der unendliches Selbstvertrauen hatte, nicht wie eine Kreatur, die vom Lauf der Sterne und Planeten täglich aufs Neue verspottet wurde.
    Langsam, unendlich langsam senkte sich der schwarze Leib herab. Die Sterne tauchten hinter ihm auf, und die nächtliche Wanderin erkannte mehr Details. Die Brust, auf der die Rippenknochen in vier Reihen verliefen, anstatt in zwei, und ein faszinierendes Muster ergaben, beinahe wie von großen Schuppen. Die Arme, doppelt so lang wie sein gesamter Körper, dick, fest und muskulös an den massigen Schultern, dann in feine, krallenartige Finger auslaufend. Und der Kopf, der auf einem langen Hals saß und die Eigenarten mehrerer Tierarten in sich zu vereinigen schien, ohne dass man genau hätte sagen können, ob die Augen die eines Löwen waren oder die eines Stiers, das Maul das eines Pferds oder eines Ziegenbocks. Er roch wie die Erde, nach Feuer. Für einen winzigen Augenblick fragte sie sich, ob er vielleicht schon einmal an diesen Ort gekommen war, vor einiger Zeit, ob er es gewesen war, der die Erde verbrannt hatte, deren Graswuchs sich erst jetzt allmählich erholte.
    Sie hätte ihn fragen können, aber sie wusste, dass es nichts zur Sache tat, und sie wollte nicht das Risiko eingehen, ihn zu erzürnen. Es gab keinen Beweis dafür, dass seine Ruhe echt war. Oder von Dauer.
    Beide Hände mit den langen Fingern verschwanden in einer Falte unter seinen Flügeln, kramten dort umher, als würde er in seinem eigenen Fleisch wühlen und sich die Knochen kratzen, die unter der schwarzen Hülle seiner Haut juckten. Die Hände kehrten wieder zurück, mit zwei Gegenständen in den Fingern. Es waren zwei Flaschen, rund und gedrungen und ungleichmäßig geformt wie von einem Kind. Das Material war nicht zu definieren. Für Stein war es zu durchscheinend, für Glas nicht glatt und transparent genug.
    Als Erstes reichte er ihr die Flasche, die er in der Linken trug.
    „Das ist Durst “, sagte er. Sagte die Erde.
    Sie nahm das Gefäß entgegen, behutsam und darauf bedacht, ihn dabei nicht zu berühren. Da er die Flasche auf der Handfläche balanciert hatte, griff sie nach ihrem Hals … und hätte sie um ein Haar fallengelassen, denn sie war viel schwerer, als sie aussah. War es der Inhalt, der ein solches Gewicht entwickelte? Jetzt fiel es ihr auf: Sie hatte keinen Korken. Dort, wo er hätte sein müssen, schien das Glas der Flasche geschlossen zu sein.
    „Das Gefäß ist beinahe massiv“, lieferte der Engel die Erklärung. „Irgendwo im Inneren – nicht genau in der Mitte – befindet sich ein kleiner Hohlraum, nicht viel größer als ein Mohnsamen. Darin ist ein Tropfen Durst . Von ihm aus führt eine winzige Unsauberkeit im Material nach draußen. Der Kanal ist nicht dicker als ein Haar. Es braucht Geduld, den Durst auszuschütten. Darum hat das Gefäß keinen Verschluss. Es braucht keinen. Durst verdunstet nicht. Du kannst ihn benutzen, um Menschen anzulocken. Niemand kann dem Durst widerstehen.“
    „Ich verstehe“, sagte sie nur, überwältigt von seinen erläuternden Worten.
    Als Nächstes erhielt sie von ihm die zweite Flasche. Diese war wesentlich leichter. Allerdings hatte sie auch hier Probleme, das Gefäß zu halten, denn der Schwerpunkt schien sich unablässig zu verlagern, als bewege sich im Inneren etwas unregelmäßig hin und her.
    „Ist der Inhalt … lebendig?“, gestattete sie sich die Frage.
    Der Engel zog seine Hände zurück und ließ sie zu Boden sinken, wo sie mit der Erde spielten, frisches Gras ausrissen und zerrieben. „Nicht lebendig, wie du es bist. Aber lebendig, wie deine Gedanken, deine Wünsche und Begierden es sind. In dieser Flasche ist Hunger . Aber es gibt nicht nur eine Art von Hunger – es gibt viele. Einige davon sind in dieser Flasche gesammelt. Und auch wenn die verschiedenen Sorten von Hunger keine Lebewesen sind wie Frösche oder Spinnen, so konkurrieren

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