Siras Toten-Zauber
ich war nie hier.«
»Und wie gelangen wir hinein? Sollen wir eine der Türen auframmen?«
Ich hob die Schultern. »Schließlich kommen wir nicht als normale Besucher, und ich weiß auch nicht, wie die Hüter der Bibliothek bei ihnen reagieren.«
»Sie sind nicht da, davon müssen wir ausgehen.«
»Klar, aber…«
Mandra war plötzlich verschwunden, ich hatte ins Leere hineingesprochen. Den Grund sah ich zwei Sekunden später. Das dumpfe Klopfen war noch zu hören, dann erschien der mächtige Schatten.
Auf dem Pferderücken saß der Krieger, den Bogen bereits gespannt, den Pfeil auf das Ziel gerichtet.
Ich tauchte gedankenschnell weg.
Das Sirren über mir empfand ich als eine verdammt gefährliche Musik. Dann jagte der Pfeil gegen die Mauer, und gleichzeitig huschte der von Mandra geschleuderte Dolch durch die Luft.
Von der Seite her bohrte er sich in den Körper des Kriegers. Die Gestalt ließ sich noch zu einer abgehackt wirkenden Armbewegung hinreißen, bevor sie vom Rücken des Pferdes purzelte, auf dem Boden liegenblieb, um zu vergehen.
Ich trat an die Reste heran. Mehr waren sie wirklich nicht. Lumpen und Asche.
Das Pferd galoppierte in die Nacht hinein. Nur die von den Hufen aufgewirbelten Staubwolken blieben noch.
Mandra hielt seinen Dolch wieder in der Hand. »Das war einer der Wächter.«
»Nur wird er uns kaum die Tür öffnen können.«
»Leider.«
»Paß auf, Mandra, ich habe eine Idee. Ich habe bei unserer Ankunft den offiziellen Eingang gesehen. Es muß die große Tür an der Frontseite sein. Ich gehe hin und benehme mich wie jemand, der etwas über sein Schicksal in Erfahrung bringen will. Wahrscheinlich wird mir eine alte Bekannte öffnen.«
»Sira.«
»Genau.«
»Nur frage ich mich, ob sie dir noch so gegenüberstehen wird wie in London.«
»Das wird sich alles noch herausstellen.« Der Inder nickte. »Geh und sei geschützt.«
»Danke, Mandra.«
Der Weg war ziemlich lang, da ich einen großen Bogen schlagen mußte. Die Nacht kam mir hier viel dunkler vor. Es konnte auch an den Schatten der Berge liegen, die das Tal umgaben. Sie schützten und drohten, sie waren Kulisse und Bollwerk zugleich.
Eine breite, eine mächtige Tür verwehrte den Eintritt. Sie konnte Respekt und Furcht zugleich auslösen, wenn jemand etwas sensibler war. Wer sie überwinden wollte, mußte tatsächlich tief in seinem Innern den Drang spüren, über sein weiteres Schicksal viel zu erfahren. Auch ich spürte diesen Drang und war mir plötzlich sicher, daß hier in dieser Bibliothek meine Zukunft aufgezeichnet worden war. Über meinen Rücken rann das Rieseln. Es war das Gefühl, daß jemand überkommt, wenn er etwas Neues erlebt, auf das er mit großer Spannung gewartet hat und nicht weiß, ob es gutgeht oder nicht. Bei einem derartigen Gebäude nach einer Klingel oder Schelle zu suchen, war müßig. Von der Fassade her wehte mir der Odem der Jahrhunderte entgegen. Ich fühlte mich so, als hätte sie eine direkte Botschaft für mich.
Die breite Holztür zeigte Schnitzereien. Tief hatten sich die Motive aus der asiatischen Mythologie in das Holz hineingefräst. Die Gesichter und Gestalten der Götter waren mir unbekannt, aber sie wirkten auf mich nicht gefährlich, schreckten nicht ab. Ein Hinweis auf die Funktion dieser Bibliothek.
Wer sie beherrschte, hatte nichts Böses im Sinn. Das allerdings konnte sich leicht ändern, wenn sie in falsche Hände geriet. Ich hatte meinen rechten Arm bereits angehoben, um mit der Faust gegen das Holz zu klopfen, als sich die Tür bewegte.
Sic öffnete sich nach innen hin. Ihr Knarren hörte sich an wie eine schräge Musik.
Ich sah keinen Menschen, glaubte aber auch nicht daran, daß sie von allein aufgezogen worden war und schaute in eine weite leere Halle hinein, mit einem hölzernen Fußboden versehen, der einen leichten Glanz abgab. In ihm spiegelte sich das Licht aus den Schalen. Es glitt über den Belag hinweg wie ein sanfter Schleier, der sich aus den Farben Rot, Blau, und Gelb zusammensetzte.
Im rechten Winkel zur Wand blieb die Tür offen. Noch stand ich vor der Schwelle, hatte Herzklopfen wie ein Teenager vor dem ersten Date, gab mir aber einen Ruck und betrat die Bibliothek des Schicksals. Ich ging den ersten, dann den zweiten Schritt und setzte meinen Fuß jedesmal behutsam auf.
Der Boden unter mir bewegte sich, als er durch mein Gewicht belastet wurde. Es war altes Holz und bedeckte den Boden, der auch zur hohen Decke paßte, die ebenfalls in einem
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