Siras Toten-Zauber
es. Ich könnte eine Ewigkeit suchen, ohne auf meinen oder den Namen eines Bekannten zu treffen.«
»Da gebe ich dir recht.«
»Dann bringe mich dorthin, wo ich das Blatt finde, das für mich bestimmt ist.«
»Komm mit.«
Sie ging vor. Erst jetzt wurde mir klar, daß diese Regalwand unwahrscheinlich lang war.
Wir gingen an ihr vorbei und schritten zudem durch eine ebenfalls ungewöhnliche Luft. Daß hier keine Klimaanlage vorhanden war, stand fest. Dennoch blieb die Luft gleich temperiert, und sie tat gut, wenn ich einatmete.
Fach für Fach stand voll. Es gab nicht eine Lücke. Aber die Blätter, braungrün in der Farbe, standen auch nicht so dicht, daß sie zusammenklebten. Winzige Zwischenräume waren schon vorhanden. Man konnte ein Blatt mit spitzen Fingern hervorzupfen. Es war klar, daß es mir in den Händen juckte, aber ich hielt mich zurück, so schweres mir auch fiel. Seltsamerweise spürte ich nicht das Gefühl der Angst.
Es war eher ein gewisser Respekt vor der Umgebung, und der Hauch einer ehrfurchtsvollen Gänsehaut rieselte über meinen Rücken hinweg. Hier war ein Jahrtausendwerk vorhanden, von den unendlich weisen Menschen gegründet, immer wieder übergeben, und das durfte einfach nicht zerstört werden oder in fremde Hände gelangen. Es mußte mir einfach gelingen, Sira und deren Totenzauber zu stoppen. Wir gingen und gingen. Vorbei an Jahren, Jahrhunderten und an menschlichen Schicksalen.
Sicherlich waren auch die Schicksale der Personen hier vorhanden, von denen ich einige kannte. Danach fragte ich Sira nicht. Ich wollte mein eigenes Blatt lesen und mir von ihr entziffern lassen, wenn eben möglich. Wann endlich blieb sie stehen?
Sie hatte ihre Schrittfolge nicht gewechselt und auch das Tempo beibehalten. Sehr gemessen ging sie vor mir her, als hätte sie alle Zeit der Welt, was auch letztendlich stimmte, denn diese Umgebung hier kam mir zugleich zeitlos vor. Hier vereinigten sich die drei für mich faßbaren Dimensionen. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Letztere allerdings mehr als eine abstrakte Größe, mit der ich noch nichts anfangen konnte.
Als Sira stehenblieb, wußte ich, daß sich dies ändern würde. Auch ich hielt meinen Schritt an. Sie drehte sich um. Aus ihren dunklen Augen schaute sie mich an. Hinter der Glaswand waren noch immer die Lichter zu sehen, die ihren Schein zudem durchdringen ließen.
»Wir sind da, John Sinclair.«
»Gut. Und wo?«
Da lächelte sie, und ich wußte, daß sie sich mit ihrer Antwort Zeit lassen würde. »Wenn du eine derartige Bibliothek einrichten würdest, gäbe es dann eine Methode, wie du vorgehst?«
»Aus meiner Sicht würde ich sie dem Alphabet nach ordnen.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Dem ist also nicht so?«
»Richtig. Es ist nichts nach dem Alphabet geordnet, sondern nach Schicksalen oder Schicksalsgemeinschaften. Es kann durchaus sein, daß in dem Regal, wo ich dein Blatt finde, auch das anderer Personen steht, mit denen du während deines Lebens in Kontakt gekommen bist. Und zwar in einen engen Kontakt.«
»Interessant, aber mich interessiert mein Schicksal.«
»Das weiß ich. Laß mich trotzdem einen Versuch wagen, um dich zu überzeugen.«
»Bitte.«
Ich schaute zu, wie sie in ein bestimmtes Fach griff, das in Augenhöhe vor ihr lag.
Welches Palmenblatt würde sie hervorholen? Ich war mir plötzlich nicht mehr so sicher, daß es sich um mein eigenes handelte. Den Grund konnte ich nicht sagen. Ein unbestimmtes Gefühl stieg in mir hoch, und auch mein Herzschlag hatte sich wieder beschleunigt. Die Spannung stieg. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hatte sie den Siedepunkt erreicht, und meine Emotionen kochten über. Es würde aus mir herausdrängen, und ich spürte meinen Magen, wie er sich zusammengeklumpt hatte.
Sira bewegte ihre Finger. Hätte nur mehr der Speichel von der Zungenspitze gefehlt, mit dem sie die Kuppen angefeuchtet hätte. Ein Blatt hielt sie fest, hob den Arm etwas an und wedelte mit ihrer ›Beute‹. Dabei schaute sie mir in die Augen.
Ich hatte eine Frage stellen wollen, mußte zuvor schlucken. Plötzlich war mir regelrecht heiß geworden.
»Was ist es? Was steht darauf?«
Sie schaute, hob die Schultern. Trotz dieser Geste entspannte ich mich nicht. »Suko, der nicht mehr lebt, habe ich vorgelesen, was über ihn geschrieben wurde. Aber ich habe dir auch erklärt, daß die Blätter der Schicksalsgemeinschaften dicht zusammenstehen. Du hast Pech gehabt, Sinclair. Dein Blatt
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