Sirenenfluch
einem der Männer von Tisch vier zu, der sich über seinen angeblich kalten Burger beklagte.
Hinter Zoe erklang das Glöckchen. »Das Essen für Tisch sieben ist fertig!«, rief Angel.
Sie stieß einen Seufzer aus. An Tisch sieben saß Mrs Cuthbert. Sie machte sich auf eine Diskussion über die Qualität des Sandwichs gefasst, doch Mrs Cuthberts Laune war offenbar wie gewandelt. »Ich danke Ihnen, Liebes«, sagte sie herzlich, als Zoe den Teller vor ihr auf den Tisch stellte.
Völlig überrascht murmelte Zoe ein »Gern geschehen« und ging wieder. Es war bereits kurz vor vier und das Bella’s leerte sich allmählich. Zoe wischte den Tresen ab, füllte die Serviettenständer wieder auf und sortierte Besteck. Als sie alles erledigt hatte, schnappte sie sich wieder ihren Skizzenblock. Sie wollte die unzähligen Fältchen festhalten, die spinnennetzartig Mrs Cuthberts Nacken überzogen. Es faszinierte sie, wie sie in Bewegung gerieten, sobald die alte Dame aß.
»Wunderschön.«
Zoe setzte erneut an. »Dir sollte ich ein Glöckchen um den Hals binden«, sagte sie zu Asia, die über Zoes Schulter hinweg die Skizze beäugte.
Asia lächelte. Ihr Finger fuhr ganz sachte die gezeichneten Linien nach und ihre Berührung war so zart, dass die Zeichnung kein bisschen verwischte. Gerade wollte sie nach dem Skizzenblock greifen, doch dann hielt sie im letzten Moment inne. »Darf ich?« Sie betrachtete jede Zeichnung einen Augenblick lang und blätterte dann weiter. Die meisten Leute blätterten durch Zoes Skizzenblock wie durch eine Zeitschrift, ohne dem Inhalt besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Asia hingegen studierte eingehend jede einzelne Zeichnung. Bei einem Porträt hielt sie inne. »Ich glaube, den hier kenne ich.«
»Nein.«
Asia zog erstaunt eine Augenbraue hoch und Zoe kam sich idiotisch vor. Sie hatte selbst bemerkt, dass ihr Ton schärfer gewesen war als beabsichtigt. »Es ist nur, weil – das ist das Bild von jemandem, der …« Sie brachte es nicht über die Lippen. Eine Welle der Gefühle drohte sie zu überrollen – Wut, Schmerz, Liebe, Angst.
»Von jemandem, der …« Asia suchte in ihrem Gesicht nach der Antwort. »… nicht mehr ist.«
Zoe nickte.
Asia ließ die Worte im Raum stehen. Nach einer Weile konnte Zoe regelrecht spüren, wie sie sich verflüchtigten. Sie atmete tief ein.
Asia sah auf die Zeichnung hinab, die Tims grinsendes Gesicht zeigte. Zoe betrachtete das Porträt – die fast schon zu lange Nase, die geraden Zähne, die wuscheligen Haare. Sie hatte die Zeichnung zu Beginn letzten Sommers angefertigt, noch bevor er sich seine Locken hatte abrasieren können. Bevor er verschwunden war.
»Doch, ich kenne ihn«, sagte Asia. Ihre Stimme klang tief, beinahe wie das Murmeln eines dahinplätschernden Gebirgsbachs. Ihre Finger strichen über die Papierkante. »Es war jemand hier im Restaurant, der genauso aussah. Allerdings hatte er eine Narbe.« Sie fuhr sich mit dem Finger über Schläfe und Wangenknochen. »Hier.«
»Das war Will.« Asia kannte Will? Bei diesem Gedanken fühlte sich Zoe unbehaglich. »Er ist …« Es gab vieles, das Zoe an dieser Stelle hätte sagen können, doch sie entschied sich für: »Das auf dem Bild ist sein Bruder.«
Asia nickte. Sie stellte keine der Fragen, die einem sonst gestellt wurden: Was ist passiert? Wie ist er gestorben? Hatte er eine schwere Krankheit? Standen sich die beiden sehr nahe? Woher kennst du sie? Stattdessen saß sie einfach nur so da, neben Zoe. Normalerweise hasste Zoe all diese Fragen. Wenn sie allerdings unausgesprochen in der Luft hingen, fand sie es irgendwie noch schlimmer. Beinahe unfreiwillig sagte sie: »Es war ein Unfall. Tim ist letztes Jahr ertrunken.«
»Du warst dabei.« Das klang nicht nach einer Frage.
»Nein«, sagte Zoe mit brüchiger Stimme. »Aber Will.«
»Was ist passiert?«
»Das weiß keiner.«
Asia neigte den Kopf leicht zur Seite und sah Zoe aufmerksam an.
»Will kann sich an nichts mehr erinnern. Und Tims Leiche wurde nie gefunden.«
Asia ließ diese Information einen Augenblick sacken. »Schmerz«, sagte sie dann.
Wie seltsam diese Bemerkung war. Schmerz. Ja, genau das war es, was Zoe derzeit fühlte. Auf jede erdenkliche Art. Überwältigenden Schmerz.
Betont langsam wandte sich Asia der nächsten Zeichnung zu.
»Magst du Kunst?«, fragte Zoe unvermittelt.
»Tut das nicht jeder?«, lautete Asias Gegenfrage.
»Nicht unbedingt.« Zoe zuckte mit den Schultern. »Ich meine, nicht viele Leute
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