Sirenenfluch
frischer Honig aus einer einheimischen Imkerei und ein Glas mit Lutschern standen. Guernsey sah Zoe aus dunklen Augen an, schnüffelte kurz an ihrer Hand und verbarg ihre Schnauze dann wieder unter ihrer Vorderpfote, um weiterzudösen.
»Du braves altes Mädchen«, sagte Zoe.
Guernsey widersprach nicht.
Der Schotter knirschte, als ein zerbeulter Ford auf das Grundstück fuhr. Es war später Nachmittag und den ganzen Tag über waren Leute vorbeigekommen. Im Allgemeinen herrschte am Verkaufsstand frühmorgens reges Treiben – die hyperaktiven Koffeinjunkies tauchten gerne schon um sieben Uhr auf, um sich mit frisch gebackenen Scones und Obst einzudecken. Danach blieb es eher ruhig, bis gegen halb fünf die nächste Sorte Kunden kam: Weinkenner auf der Suche nach ein paar kulinarischen Kleinigkeiten, die sie zusammen mit ihren handgemachten Käsesorten und importierten Kräckern anbieten konnten, oder Gourmetköche, die beim Anblick von Rucola und klopfreifen Cantaloupe-Melonen nur ein verächtliches Naserümpfen übrig hatten.
Der Ankömmling war jedoch kein Feinschmecker, der Pfirsiche begutachten wollte. »Na toll«, seufzte Will, als zwei lange Beine aus dem winzigen silbernen Auto auftauchten. »Noch so ein kleiner Schmarotzer.«
»Hey!«, rief Angus und kam mit großen Schritten auf sie zu. Als er Zoe bemerkte, fuhr er sich mit der Hand durch sein dichtes braunes Haar. »Wo habt ihr euch denn die ganze Zeit herumgetrieben?«
»Angus!« Zoe winkte ihm zu und Angus strahlte übers ganze Gesicht. »Die hier musst du unbedingt probieren!«
Angus wollte protestieren, aber Zoe hatte ihm schon eine Cherrytomate in den Mund gesteckt. »Ach, führst du jetzt etwa Gemüseverkostungen durch?«, neckte er sie.
»Bei Will gibt’s ja nie was umsonst, aber die hier sind mein Eigentum«, sagte Zoe. »Hier, nimm noch eine Brombeere.«
Angus sperrte den Mund weit auf und ließ sich von ihr füttern. Kauend strahlte er sie an.
»Wir waschen den Viehdünger auch immer erst ab, bevor wir die Sachen zum Verkauf anbieten«, ließ Will ihn wissen.
Zoe verdrehte die Augen, doch Angus blickte ein wenig verunsichert drein.
»Nee, Quatsch«, sagte Will. »Bei uns wird überhaupt nichts abgewaschen.«
»Wi-hill!«, sagte Zoe und zog seinen Namen dabei auseinander, so wie sie es immer tat, wenn sie ihn ausschimpfte. »Hör einfach nicht auf ihn, Angus. Noch eine?« Sie hielt ihm die Schachtel mit den dicken, glänzend schwarzen Brombeeren hin.
»Nee, danke.« Er schwang sich auf die lange Holztheke. »Hört mal, eigentlich bin ich gekommen, weil ich euch zu ’ner Party einladen wollte.«
»Erlaubt deine Mom dir endlich wieder, Leute einzuladen?«, fragte Will.
»Auf keinen Fall, Mann, nicht nach der Sache vom letzten Jahr – in unserem Haus herrscht Partyverbot, bis ich meinen Abschluss habe. Aber Ansell feiert am nächsten Freitag bei sich zu Hause.«
»Etwa an ihrem Privatstrand?«, fragte Zoe. Angus nickte. »Super.«
Harry Ansell war reich. Sehr reich. Allerdings taten seine Eltern viel für die Stadt, weshalb sie von den Einheimischen in Shelter Bay nicht völlig verabscheut wurden. Will kannte Harry ein wenig und fand ihn gar nicht so übel. Er war vielleicht nicht unbedingt der Hellste, aber auch nicht total bescheuert.
»Ich könnte auch fahren«, bot Zoe an und sah zu Will hinüber.
»Ich komme nicht mit.«
»Oh doch, du kommst mit.«
Will schüttelte den Kopf und warf Angus, der den Wortwechsel amüsiert beobachtete, einen raschen Blick zu. Zoe wollte einfach nicht begreifen, dass Will nicht war wie sie. Er konnte nicht auf Partys gehen und so tun, als sei alles in bester Ordnung. Manchmal empfand er die Nähe anderer Leute so unerträglich, dass er fast glaubte, es müsste ihn zerreißen. Am Gemüsestand, ja, da musste er natürlich mitarbeiten. Seine Familie brauchte ihn. Doch niemand konnte ihn zwingen, auf einer Party herumzuhängen, ekelhaftes Bier zu trinken und die mitfühlenden Blicke und das Gemurmel der anderen zu ertragen.
»Und du kommst doch mit.«
»Nein.«
»Okay, schön, dass wir drüber geredet haben. Ich hol dich dann um neun ab.«
»Vergiss es, Zoe.«
Zoe grinste nur und nahm ihren Karton mit den Cherrytomaten, Brombeeren und dem Salat. »Danke für die Einladung, Angus. Bis dann! Und denk dran, Will – Freitagabend um neun!«
»Zoe, ich werde nicht –«
Doch da war sie auch schon davonstolziert und trällerte irgendein Liedchen vor sich hin. Ihr langer indischer Rock schwang beim
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