Sirenenfluch
mit erwartungsvollem Blick die Zimmertür fixierte. Will stand auf, um sie hinauszulassen, und die alte Hundedame trottete steif den Flur entlang und die Treppe hinunter.
Will betrachtete die Flöte in seiner Hand und fragte sich, wo Asia ihre wohl hergehabt hatte. Sie hatte ihm gesagt, es sei ein Geschenk gewesen, und dennoch hatte sie das Instrument verkauft. Es war schon eigenartig, wie Asia immer wieder plötzlich in seinen Gedanken auftauchte. Es war nicht das Gleiche, wie wenn Gedanken an Tim ihn ohne Vorwarnung überrumpelten. Eher war es so, als ob diese Gedanken an Asia pausenlos sein Unterbewusstsein bearbeiteten, so wie die winzigen Fische, die an seinen Beinen herumknabberten, sobald er einen Fuß in das Wasser der kleinen Bucht setzte. Häufig bekam er noch nicht einmal mit, dass sie schon wieder in seinen Gedanken herumspukte. Wie hatte sie das gemeint, als sie sagte, sie hätte keine Familie? Woher kam sie? Warum sah er sie nie in Begleitung anderer – hatte sie keine Freunde? Was hatte sie an sich, das ihm den Verstand zu vernebeln schien? War es ihre Art zu reden? Ihre Schönheit? Oder etwas, das zu benennen er nicht in der Lage war?
Will packte die Flöte ganz hinten in die unterste Schublade und schob diese zu. Dann setzte er sich wieder auf sein Bett und sah aus dem Fenster.
Wie gerne er doch mit Tim geredet hätte. Es war komisch, wenn der Bruder, der beste Freund, über Nacht verschwand. Wir haben immer alles miteinander geteilt, dachte Will. Bis zum letzten Augenblick.
Die Sandfläche vor ihr schien sich so unermesslich weit zu erstrecken wie der Ozean und fühlte sich auch ebenso kalt unter ihren Füßen an, während sie weiterstapfte. Obwohl die Sonne vom Himmel auf sie herabbrannte, war es nicht heiß. Ein kalter Wind blies ihr entgegen und ließ ihre Gliedmaßen vor Kälte ganz steif werden. Zoe lief weiter und hoffte, dass ihr bald warm werden würde.
Sie musste zum See.
Sie war sich sicher, dass er dort war, auch wenn sie ihn nicht sah. Der Weg durch den Sand war leicht ansteigend und ihre Muskeln schmerzten vor Anstrengung, als sie sich weiter vorwärtskämpfte. Der Sand unter ihren nackten Füßen war noch feucht vom Morgentau.
Die Frage, weshalb sie dort war, stellte sich ihr nicht. Sie wusste es. Sie musste zum See.
Ein weiterer Windstoß kam und trug eine leise Melodie an ihr Ohr. Im Grunde war es kein Lied, sondern eher ein Klang. Ein einziger Ton. Lieblich und rein wie das ferne Schellen heller Silberglöckchen in einer klirrend kalten Winternacht. Es trieb ihre Füße zur Eile an.
Sie hastete auf den höchsten Punkt zu, doch den Weg dorthin hatte sie kürzer eingeschätzt. Sie beschleunigte ihren Gang, wobei ihr langsam die Luft ausging. Beim Atmen bildeten sich vor ihrem Mund kleine Wölkchen, die in der kalten Luft hängen blieben wie die ausgestoßenen Rauchwolken eines Drachen.
Ein weiterer Ton erklang, wie das Geläut einer einzelnen goldenen Glocke. Weich und herzerwärmend, ein Klang wie süßer, flüssiger Honig. Zoe konnte die Musik förmlich schmecken. Und sie wollte sie sich auf der Zunge zergehen lassen.
Sie blieb stehen.
Nun war sie am höchsten Punkt angelangt. Dort, unter ihr, lag ein spiegelglatter See. Und nun rannte sie los, rannte auf das Wasser zu. Sie kam sich vor wie ein rollender Felsen, der durch die Kraft der eigenen Bewegung mitgerissen wird. Die Musik schwoll an, Note um Note fügte sich ein, bis eine wahre Symphonie an Tönen erklang. Jeder Einzelne von ihnen war unverwechselbar und doch verschmolzen sie zu einem stimmgewaltigen Ganzen.
Nun berührten ihre Zehen bereits das Wasser, doch sie blieb zögernd stehen und blickte auf die stille Wasseroberfläche. Das tiefdunkle Blau ließ ein steil abfallendes Ufer erahnen. Nach einigen Zentimetern schien es jäh in die Tiefe zu gehen. Über das Wasser gebeugt konnte sie ihr Spiegelbild erkennen, ihre blauen Augen, ihr langes blondes Haar, das vornüberfiel und dessen Spitzen die Wasseroberfläche berührten.
Und unter der Oberfläche, in den Tiefen des Sees, brannte eine Flamme.
Sie beugte sich ein Stück weiter vor, um sie besser erkennen zu können. Die Flamme loderte auf und jetzt erst bemerkte Zoe nicht weit davon eine weitere Flamme. Und noch eine. Bald erstrahlte das Flammenmeer wie ein Sternenhimmel. Zoe blickte hinauf, um das reale Bild dieser Spiegelung zu sehen.
Die Sonne stand hoch am Himmel.
Zoe sah wieder hinab ins Wasser. Zwei der Sterne strahlten heller als der Rest. Ihr
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