Sirenenfluch
Sandstrand unterhalb des Kliffs. Als hätte ihn ein Windstoß erfasst und an den sicheren Ort getragen. Er öffnete die Augen wieder. »Was ist passiert?«
Keine Antwort.
Er drehte sich um und sah, dass er ganz allein war. Asia war einfach verschwunden.
Will versuchte, das in ihm aufkeimende Gefühl der Unwirklichkeit zu unterdrücken, doch es wurde immer stärker und ließ seine Haut prickeln wie eine ganze Armee von Ameisen. Und wenn ich der Schlafwandler bin?, überlegte er. Vielleicht habe ich »Will!«, schrie jemand. »Will!«
Es war Zoe.
»Hier!«, rief er.
»Will! Will?« Eine weiße Gestalt hechtete den Steilhang herunter. »Oh mein Gott!« Kurz darauf war sie bei ihm und schlang ihre Arme um ihn. »Oh Gott!« Sie lehnte den Kopf an seine nackte Brust und schluchzte hemmungslos und erst jetzt begann Will vor Kälte mit den Zähnen zu klappern. Er zitterte am ganzen Leib, völlig durchgefroren von der kalten Nachtluft, doch gleichzeitig durchströmte ihn eine Welle der Erleichterung und verlieh ihm ein Gefühl von Schwerelosigkeit.
»Schon gut.« Unbeholfen streichelte er Zoe über das Haar. »Es geht mir gut.«
»Ich dachte schon, du wärst –«
»Bin ich aber nicht.«
»Aber du …« Sie blickte zurück zur Klippe. Dann griff sie sich an die Stirn. »Ich habe geträumt.«
»Ich weiß.«
»Was ist denn passiert?«
Will schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
»Aber du warst doch da oben.« Sie zeigte auf die Felsen. Dann runzelte sie verständnislos die Stirn. »Oder etwa nicht?«
»Doch, ich glaube schon.«
Zoe legte ihre zarte Hand in seine und ihre Finger schlangen sich umeinander wie Bohnenranken. »Werden wir etwa beide wahnsinnig?«
Ein Nein wollte ihm nicht recht über die Lippen kommen. »Ich weiß es nicht«, antwortete er stattdessen.
»Na toll«, grummelte Will, als sie sich seinem Zuhause näherten. Das ganze Haus war hell erleuchtet, so als wäre jede einzelne Lampe angeknipst worden, um selbst in der dunkelsten Ecke nach ihm suchen zu können – hinter dem Sofa, in den hintersten Winkeln der Abstellkammer. Wahrscheinlich stellte seine Mutter gerade das gesamte Haus auf den Kopf, um ihn zu finden. Er sah sie förmlich vor sich, wie sie ungeduldig auf den Bodendielen auf und ab tigerte.
»Soll ich mit reinkommen?«, bot Zoe an.
»Nicht nötig«, meinte Will.
Zoe drückte seine Hand, so als ließe sie ihn nur ungern gehen, und dabei fiel ihm auf, dass sie noch immer vor Kälte schlotterte. Ihr Zittern war wie ein Erdbeben durch seinen ganzen Körper gegangen und nun fühlte er sich erschöpft und benommen. Im Geiste stellte er sich die Trümmer eingestürzter Gebäude vor, zerborstene Fensterscheiben, zerbrochene Ziegel, Steine und Papierfetzen, die vom Wind durch menschenleere Straßen getrieben wurden. So fühlte er sich: völlig kaputt.
Zoe ihrerseits blickte ihn aus weit aufgerissenen Augen und mit schreckgeweiteten Pupillen an. Ihre Hand fühlte sich ganz heiß an – beinahe war Will, als würde er durch ihre Berührung versengt – und er begriff, dass sie schreckliche Angst hatte. Panik. Für sie bebte die Erde auch jetzt noch.
»Na, dann komm«, sagte er.
Guernsey hatte die beiden als Erste die Außentreppe heraufkommen hören und lief ihnen freudig wedelnd entgegen. Ihre Pfoten machten taps-taps-taps auf dem Linoleumboden. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters waren ihre Bewegungen langsam und steif, und sie war noch nicht ganz bei ihnen angekommen, als Mrs Archer bereits mit sorgenvoller Miene aus dem Nebenzimmer gestürmt kam.
»Will!«, rief sie mit erstickter Stimme, als sie die Verandatür aufstieß und den Hund aus dem Weg schob.
»Alles okay, Mom, mir ge–«
Ein Schmerz durchfuhr ihn, als sie ihn hart ins Gesicht schlug.
Niemand rührte sich.
»Wie konntest du mir das nur antun?«, flüsterte sie leise. Tränen stiegen ihr in die Augen, sammelten sich und liefen ihr über das sorgenvolle Gesicht. Sie trug ihr hässliches, geblümtes Nachthemd mit dem hochgeknöpften Kragen und darüber einen alten gelben Frotteemorgenmantel. Sie wirkte uralt und todmüde.
Guernsey setzte sich, legte die Ohren an und ließ Mrs Archer nicht aus den Augen. »Oh Gott, Will.« Seine Mutter zog ihn mit einer stürmischen Bewegung an sich. »Tu so etwas nie wieder«, wisperte sie. »Nie wieder.«
Die Uhr an der Wand tickte vor sich hin und ein Schatten erschien im Türrahmen. Es war Wills Vater. Er blickte von Will zu Zoe, die sich immer noch an Will klammerte wie
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