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Sirenenfluch

Sirenenfluch

Titel: Sirenenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Papademetriou
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ihren kristallgrünen Augen an. »Nein.«
    »Hast du meinen Bruder umgebracht, Asia?« Die Worte kamen scharf wie Reißzwecken aus seinem Mund geschossen.
    Asias Blick wurde weich. »Nein, Will«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Nein.«
    Wills Muskeln entspannten sich augenblicklich. Er glaubte ihr. Vielleicht sollte ich das lieber nicht, dachte er. Aber trotzdem glaube ich ihr.
    Ein trauriges Lächeln umspielte Asias Mund, als sie ihm das Buch zuschob. »Musstest du das hier jemals lesen?«, fragte sie.
    Will klappte das Buch zu und betrachtete den Einband. Es war eine stoffgebundene, abgenutzte Ausgabe, deren Schutzumschlag längst abhandengekommen war. Auf dem marineblauen Buchdeckel prangte in goldenen Lettern der Titel. Odyssee lautete er.
    »In der neunten Klasse«, meinte Will. »Aber viel habe ich davon nicht behalten. Wurde da nicht irgendjemandem ein Auge ausgestochen?«
    Asia lächelte kaum merklich. »Den Zyklopen, ja.«
    »Und hat Odysseus nicht die Geliebten seiner Frau umgebracht?«
    »Sie waren nicht ihre Geliebten«, stellte Asia richtig. »Sie wollten sie des Geldes wegen heiraten.«
    »Offenbar kann ich mich nur an die blutrünstigen Stellen erinnern«, gestand Will.
    Asia zeigte auf eine Passage weiter unten auf der Seite. »Kannst du dich hieran noch erinnern?«
    Will überflog die Seite.
    »Lies es laut vor«, forderte Asia ihn auf.
    »›Erstlich erreichet dein Schiff die Sirenen; diese bezaubern alle sterblichen Menschen, wer ihre Wohnung berühret.‹« Will hielt inne. Das Gelesene kroch ihm über den Rücken und rief prickelnd Erinnerungen an die Logbucheinträge wach, die er erst vor Kurzem gelesen hatte. Sein Blick suchte Asia, die düster aus dem Fenster starrte.
    »Lies weiter«, wisperte sie.
    »›Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt und der Sirenen Stimme lauscht, dem wird zu Hause nimmer die Gattin und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen; denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen, die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten.‹« Will blickte Asia in die Augen. »Also, was genau ist eigentlich eine Sirene?«
    »Sirene, Meerjungfrau, Najade, Okeanide … es gibt viele Bezeichnungen«, sagte Asia. »Viele Bezeichnungen für ein und dieselbe Sache.«
    »Das ist aber noch keine Antwort auf meine Frage.«
    »Was wir sind? Wer weiß das schon.«
    »Aber ihr seid keine menschlichen Wesen, oder?«
    Asia lachte auf. »Nein.«
    Will lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er betrachtete sie mit größter Aufmerksamkeit – ihre perfekte Haut, ihre leuchtenden Augen, ihr seidiges Haar. All das wirkte geradezu unwirklich. Trotzdem, es aus ihrem eigenen Mund zu hören, hinterließ in ihm ein flaues Gefühl. Nicht, dass es ihn überrascht hätte. Vielmehr verspürte er eine große Erleichterung. Wenigstens bin ich nicht verrückt. Oder zumindest nicht der einzige Verrückte. »Und …«
    Asia hob fragend eine Augenbraue.
    »Habt ihr …« Er wiegte den Kopf hin und her, auf der Suche nach dem passenden Wort.
    »Eine Fischflosse?«, bot sie an.
    »Ja, ich glaube, das meinte ich.«
    »Nein. Nein, ich verwandle mich nicht in einen Fisch oder Vogel. Nein, es fühlt sich nicht an, als würde ich über zersplittertes Glas laufen, sobald ich festes Land betrete. Und nein, ich wurde auch von keiner Meerhexe meiner Stimme beraubt.«
    »Und was ist an euch dann anders? Habt ihr irgendwelche Superkräfte?«
    Asia blickte aus dem Fenster. »Wir sind unsterblich. Falls du das als Superkraft bezeichnen würdest.«
    »Na, du etwa nicht?«
    Ein Schatten legte sich über Asias Gesicht. »Irgendwie nicht so richtig.«
    »Ihr sterbt nicht? Niemals?« Das war für Will schier unbegreiflich. Bisher hatte er nie großartig über den Tod nachgedacht, doch in letzter Zeit schien er sich mit nichts anderem zu beschäftigen. Es überstieg seine Vorstellungskraft, wie es wohl wäre, sich nie mit diesem Thema auseinandersetzen zu müssen.
    »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Möglicherweise besitzen wir lediglich eine sehr hohe Lebenserwartung. Es könnte aber auch durchaus sein, dass wir unsterblich sind. Soweit mir bekannt ist, ist keine von uns jemals eines natürlichen Todes gestorben. Allerdings können wir getötet werden.«
    »Aber dann – Moment mal. Wie alt …?«
    Asia spielte mit ihren Fingern an einer zerfledderten Buchecke herum. »Ich kann mich an vieles erinnern«, sagte sie. Sie blickte Will fest ins Auge. »An viele

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