SISSI - Die Vampirjägerin
schienen unter ihm zu verschwinden, alles war erstarrt, so als hätte der Schnee eine neue, stille Welt erschaffen.
Eine Welt, wie Seine Eminenz sie sich wünscht, dachte Sissi, während ihr Blick über die weiße Landschaft glitt.
Sie legte sich ihre Decke um die Schultern. Die Kohlefeuer wärmten ihren Rücken, trotzdem war ihr kalt. Sie blieb an der Reling stehen und wartete, bis Alfons und Rudi sich hingelegt hatten. Dann öffnete sie den Schrankkoffer.
Franz-Josef fiel ihr beinah entgegen. Sie erschrak und wich zurück. Er jedoch sprang auf und griff nach dem Fernglas.
»Wir haben uns geirrt«, erklärte er, nicht enttäuscht, sondern aufgeregt. »Er ist nicht hier.«
Alfons und Rudi fuhren hoch.
»Schlaft weiter!«, herrschte Franz-Josef sie an. Als die beiden zurück auf ihre Kissen sanken, winkte er Sissi heran. »Er ist nicht hier, sondern da unten.«
Sie folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger mit dem Blick und entdeckte auf der endlosen weißen Fläche einen einzelnen schwarzen Punkt.
»Ich dachte, es sei nicht möglich, dass er uns am Boden folgt.« Franz-Josef sprach schnell. Den ganzen Tag hatte er in seinem engen Versteck darüber nachgedacht. »Wir Vampire sind schnell, aber nicht so schnell und vor allem nicht über einen so langen Zeitraum. Dann fielen mir die wilden Vampire ein. Er hat sie positioniert wie Kurierreiter ihre Pferde. Ist der erste erschöpft, springt er zum zweiten, dann zum dritten und so weiter. Denk doch nur daran, wo sie gesehen wurden, Sissi. Österreich, Bayern, Hessen. Sie bilden eine Linie, über die Seine Eminenz seinen Geist springen lassen kann, bis nach Wien.«
Er fasste Sissi bei den Schultern. Erst als sie das Gesicht verzog, bemerkte er, dass er ihr wehtat, und ließ los.
»Wir müssen nicht nach einem Vampir in den Gondeln suchen, sondern nach Betörten, nach Menschen, die Dinge tun, die nicht zu diesem Rennen passen. Du siehst, was Alfons und Rudi machen. Du kannst die finden, die Seine Eminenz von dort unten betört.«
Franz-Josef lachte, als er sah, wie die Hoffnung, die er verspürte, nun auch auf Sissi übersprang.
»Wir können es schaffen«, sagte er.
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
Nachdem ich über vampirische Propaganda gesprochen habe, muss ich natürlich auch die Frage erörtern, ob aufseiten der Kinder Echnatons ebenfalls Propaganda betrieben wird. Die Antwort ist vielschichtiger, als der Laie vermuten würde. Wird gelegentlich übertrieben, wenn es der Sache dienlich ist? Ja. Wird gelogen, um Rekruten zu werben und Hass auf unsere Sklaventreiber zu schüren? Ein klares Nein. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass alles, was ich hier geschrieben habe, der Wahrheit entspricht.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Sissi schlief weder in dieser Nacht noch am nächsten Morgen. Bei Sonnenaufgang nahm sie das Fernglas in die Hand und begann die Ballons in ihrer Nähe zu beobachten. Franz-Josef hatte recht, nach zwei Tagen mit Alfons und Rudi kannte sie die Abläufe an Bord.
Das Feld war zusammengerückt, aber die Sechsergruppe, die sich anfangs davon gelöst hatte, lag immer noch vorn. Sissi sah zu, wie die Männer in den anderen Ballons die Feuer mit Kohle versorgten, Windgeschwindigkeit und Flugrichtung berechneten, aßen, tranken und Gegessenes und Getrunkenes wieder loswurden. Es war keine Frau unter ihnen. Sissi konnte sich den Grund dafür denken.
Da simmer janz diskret, hatte Alfons zu Beginn der Reise gesagt, was stimmte, aber nichts daran änderte, dass Sissi jedes Mal rot wurde, wenn sich jemand an Bord erleichtern musste.
Die Ballons um sie herum wirkten in dem klaren, sonnigen Winterwetter wie Gemälde auf einer blauen Leinwand. Solange sie nicht nach unten blickte und sah, wie schnell die Landschaft vorbeizog, schienen sie still zu stehen.
Gegen Mittag trat Alfons neben sie an die Reling und reichte ihr eine Tasse mit heißer Suppe.
»Et jibt nix Schöneres«, sagte er. Seine Geste schien die ganze Welt einzubeziehen. »Ävver leider is et schon balld widder vorbei.«
Sissi setzte das Fernglas ab. Sie hatte den Ballon beobachtet, den sie wegen des riesigen Sonnengesichts auf der Hülle Sonnenballon nannte. »Was meinen Sie damit?«
»Dat wir, wenn nix dozwische kütt, hück Naach in Wien ankumme.« Er kratzte sich im Nacken, dort, wo Franz-Josef ihn in der Nacht gebissen hatte.
»Das ist ja wundervoll«, flötete Sissi, obwohl sich ihr Magen verkrampfte. Sie fiel Alfons um den Hals und dann, als sie Rudis Blick
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