SISSI - Die Vampirjägerin
Gedanken hatte fassen können. Sie hatte gewusst, dass sie keinen Arzt aufsuchen konnte, und gehofft, dass der Cousin in Wien ihr helfen würde. War sie so weit gekommen? Hielt sie sich in seinem Versteck auf? Aus irgendeinem Grund bezweifelte sie das.
Sissi setzte sich auf. Ihr Rücken schmerzte und brannte, aber längst nicht mehr so schlimm wie in der Kutsche. Wie lang war das her? Sie spürte Stoff. Jemand hatte sie verbunden.
Sie schwang die Beine über die Bettkante, stand auf und blieb neben dem Bett stehen, bis das Zimmer aufhörte zu schwanken. Sie trug nur noch ihre Bluse, den Rock hatte jemand zum Kopfkissen zusammengefaltet und auf ihr Bett gelegt. Sie wünschte, sie hätte ihn anziehen können, doch die Fesseln saßen zu eng. Hüpfend bewegte sie sich durch das Zimmer.
Was hat man mit mir gemacht? Die Frage war beängstigend, also verdrängte Sissi sie.
Ihre Stiefel fand sie in einer Ecke, unmittelbar neben dem ausgewickelten Katana. Sie klemmte es zwischen ihre Knie und zog es mit den Zähnen am Griff aus der Schwertscheide. Die Klinge blitzte selbst im Halbdunkel des Zimmers. Jemand musste es gesäubert haben.
War ich das? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Rasch schnitt sie die Stricke an ihren Handgelenken durch, dann die an den Füßen. Sie zog Rock und Umhang an, schlüpfte in ihre Stiefel und ging zur Tür. Einen Moment lang lauschte sie am Holz, dann zog sie die Tür vorsichtig einen Spalt auf. Sie knirschte auf dem schmutzigen Boden. Sissi wand sich durch den Spalt, versuchte, so leise wie möglich zu sein.
Der Gang war ebenso leer und still wie ihr Zimmer. Sämtliche Türen waren geschlossen. Die Wände waren übersät mit faustgroßen Löchern, als habe jemand mit einem Hammer hineingeschlagen. Überall lagen tote Ratten. Den meisten fehlte der Kopf, andere sahen aus, als seien sie zerquetscht worden.
Wer immer in diesem Haus lebte, war nicht normal.
Sie öffnete die Haustür. Frische, kühle Luft strich über ihr verschwitztes Gesicht. Die Abendsonne hing tief über den Bäumen.
Ich will gar nicht wissen, wie meine Haare aussehen, dachte Sissi.
Mit dem Katana in den ausgestreckten Händen trat sie vor das Gebäude. Vorhof und Gärten waren verwildert; ein schmaler Pfad führte durch Gestrüpp zu einem Weg. Neben ihr baumelte ein Bündel an einem Haken. Neugierig nahm Sissi es ab und öffnete den Knoten. Ihr Rücken schmerzte bei jeder Bewegung. Im Innern des Beutels fand sie einen halben Brotlaib und eine Flasche mit Milch. Sie stellte das Katana nach einem weiteren prüfenden Blick in die Runde ab, entkorkte die Flasche mit den Zähnen und trank. Dann biss sie in das alte, trockene Brot. Jemand hatte die Lebensmittel wohl an den Haken gehängt, um sie vor Ungeziefer zu schützen.
Sissi warf die Kruste des Brots ins Gestrüpp, trank die Milch aus und nahm ihr Katana wieder in die Hand. Mit jedem Schritt fühlte sie sich besser und sicherer. Sie schien ganz allein auf dem Grundstück zu sein. Vielleicht war der verrückte Rattenfänger auf Maulwürfe umgestiegen und schlich jetzt durch die Felder in der Umgebung. Beinah hätte sie über diese Vorstellung gelacht, obwohl sie wusste, dass das nur an der Anspannung lag.
Vorsichtig ging sie um das Haus herum. Alles war verfallen und zugewachsen. An diesem Ort lebte niemand, das spürte sie. Doch dann sah sie das Pferd. Abrupt blieb Sissi stehen. Jemand hatte es hinter dem Haus angebunden. Es graste und hob nur kurz den Blick, als es sie sah.
Das ist kein Ackergaul, dachte Sissi, sondern ein edles Tier. Das Pferd eines reichen Mannes.
Sie sah sich um. Das beklemmende Gefühl kehrte zurück. Niemand ließ ein solches Pferd einfach stehen und machte sich davon. Einen Moment lang dachte sie daran, es zu stehlen, doch dann kamen ihr Zweifel. Der Besitzer hatte sie gepflegt und ihre Wunden verbunden. Er hatte sie zwar auch gefesselt, aber sie wusste nicht, ob er das aus unlauteren Motiven getan hatte oder aus Vorsicht. Menschen konnten seltsam werden, wenn sie im Fieber lagen. Als Sissi an den Masern erkrankt war, hatte ihre Mutter sie nur mühsam davon abhalten können, Kuchen zu backen. Sie hatte geweint und geschrien, weil sie in die Küche wollte, aber ihre Eltern hatten sie nicht gelassen.
Wie peinlich, wenn sich das wiederholt hat, dachte sie. Sollte ich nicht wenigstens versuchen, dem Menschen zu danken, der mich gepflegt hat, bevor ich sein Pferd stehle? Wer weiß, ob er diesen Ort nicht schon genauso vorgefunden hat wie
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