SISSI - Die Vampirjägerin
unseres eigenen Volkes.
Doch in der Stille dieser Kammer und allein mit dem Papier, das vor mir liegt, fällt es mir leicht, zu schreiben, was ich wirklich denke: dass sie ewig sind und dass sie mit Anbeginn der Welt entstanden, so wie der Fels und der Sand. Kein Schöpfer hat ihnen das Leben geschenkt, um uns für unsere Sünden zu bestrafen, und kein Dämon führte sie aus der Hölle empor, um uns zu verderben. Im Gegenteil, wir wurden geschaffen, um die Welt von ihnen zu befreien. Sie sind die Sünde und wir ihr Verderben.
– Die geheime Geschichte der Welt von MJB
Sissi zog die altrosa Vorhänge zurück. Die Gärten wirkten grau und trostlos im ersten Licht des Tages. Sie hatte geglaubt, dass ihre Gedanken sie wach halten würden, war jedoch eingeschlafen, bevor sie ihr viel zu großes Kopfkissen zurechtklopfen konnte. Ihr Körper litt anscheinend noch unter den Verletzungen.
Das Bad befand sich hinter einer schmalen Tür rechts neben dem altrosa Grauen, in dem Sissi wohl die nächsten Jahre nächtigen würde. Eine Wanne stand in der Mitte des Raums, eine Kommode mit Handtüchern und duftenden Ölen an der Wand. Sissi ging auf den mannshohen Spiegel zu, der daneben hing, und zog sich ihr langes Unterhemd aus. Sie hatte darin geschlafen, ihr Gepäck war noch nicht aus Possenhofen eingetroffen.
Vorsichtig löste Sissi den Verband und verdrehte den Kopf, um im Spiegel einen Blick auf ihren Rücken werfen zu können. Der Anblick fühlte sich an wie eine eisige Faust in ihrem Magen. Vier wulstige lange Striemen zogen sich von ihrer Schulter über den ganzen Rücken. Es sah aus, als habe eine Raubtierpranke ihr die Haut aufgerissen.
Meine Götter, dachte Sissi. Sie konnte den Blick nicht abwenden, obwohl er sie entsetzte. Einerseits bemerkte sie, dass die Wunden gut verheilten und sie keinen Verband mehr benötigte, viel mehr beschäftigte sie jedoch die Frage, was sie nun anziehen sollte. Die Ballkleider, die sie besaß, waren schulterfrei – natürlich, sie war ja keine alte Frau – doch tragen konnte Sissi sie nicht mehr.
Franz-Josef hatte die Wunden sofort mit einem Vampir in Verbindung gebracht und er würde sicherlich nicht der Einzige sein, der auf diese Idee kam. Und was sollte sie sagen, wenn man sie danach fragte? Dass sie von einem Tiger angefallen worden war?
Ich brauche neue Kleider, dachte Sissi, am besten welche, über die sich auch eine Nonne freuen oder – sie schüttelte sich bei dem Gedanken – die Sophie sich aussuchen würde.
Erst der Anblick ihrer Haare brachte sie dazu, sich von den Wunden auf ihrem Rücken loszureißen. Meine Haare! Die sehen ja aus, als würden Eichhörnchen darin nisten.
Sie schüttete Wasser aus einer Karaffe in eine Schüssel und begann, ihr Haar darin auszuwringen und mit Seife zu waschen. Dann knotete sie sich ein Handtuch um den Kopf und schlüpfte in die Kleidung, die sie am Vorabend achtlos neben das Bett geworfen hatte. Die Schlammspritzer und Strohhalme störten sie nicht, die Risse im Rücken ihrer Bluse verdeckte sie mit ihrem Umhang.
Weder im Schlafzimmer noch in dem kleinen Salon schien es eine Klingel zu geben. Sissi fragte sich, wie man in diesem Palast Dienstboten zu sich rief, wenn man etwas benötigte. Aber sie fand keine Antwort auf diese Frage, nur eine weitere Tür halb versteckt hinter einem Vorhang, die zu einem großen, prunkvoll eingerichteten Arbeitszimmer führte. Auch dort gab es keine Klingel.
Dann werde ich wohl fragen müssen, dachte Sissi. Mit knurrendem Magen verließ sie ihre Privatgemächer.
Die Gänge der Hofburg lagen im Halbdunkel. Vorhänge bedeckten Fenster, die so hoch wie Scheunen waren. Ab und zu hörte Sissi Schritte durch die Gänge hallen, manchmal sogar Stimmen, aber sie sah niemanden außer den alten Männern auf den Gemälden an den Wänden, die ihr ernst und weise nachsahen.
Ob sie alle Vampire waren oder noch sind?, fragte sie sich. Sie wusste, dass Vampire Menschen ein anderes Aussehen als das eigene vorgaukeln konnten und oft jahrhundertelang auf dem gleichen Thron saßen. Der Gedanke versetzte ihr einen plötzlichen Stich. Sah Franz-Josef wirklich so aus, wie sie glaubte, oder trug auch er nur eine Maske? Sie hatte ihn noch nicht danach gefragt.
Sie ging eine breite Treppe hinunter in ein Stockwerk, das sich in nichts von dem unterschied, das sie gerade verlassen hatte. Einmal glaubte sie, einen uniformierten Dienstboten in einem Zimmer verschwinden zu sehen, aber als sie dort anklopfte, antwortete
Weitere Kostenlose Bücher