Sisters of Misery
verwinkelten Gassen auf ragenden windschiefen und wettergegerbten Häuschen mit den niedrigen Decken und den unebenen Dielenböden aus Kiefernholz. Sie waren stolz auf ihre prächtigen Gärten, in denen Blumen in den schillerndsten Farben wuchsen, die in der salzgeschwängerten Meeresluft und durch die vielen Sonnentage in dieser Gegend besonders gut gediehen. Seit Generationen
lebten sie hier schon so, vererbten ihre Häuser an die jeweils nächste Generation weiter und pflegten die Gärten, die ihre Urahnen einst angelegt hatten.
Das war das Hawthorne, wie es die meisten Leute sahen: eine Stadt voller Geschichten, die so alt und verwittert waren wie die Schindeln auf den historischen Gebäuden. Eine Stadt, die das perfekte Postkartenmotiv abgab, mit wunderschönen Landschaften, die im Herbst nach Cidre dufteten, im Winter nach Kiefer und Kaminfeuer und im Sommer nach Honig und Jasmin. Eine Stadt, die für ihren Yachthafen, die urigen Souvenirläden und eine traumhaft schöne Küste bekannt war.
Und dann waren da die Legenden, die sich um Hawthorne rankten.
Geschichten von gefallenen Soldaten aus dem Unabhängigkeitskrieg, von denen es hieÃ, sie würden immer noch vor der Taverne Old Sandy Dog herumspuken, oder dem Geist von Jack Derby, dem tyrannischen Sheriff, der vor über zweihundert Jahren Angst und Schrecken in der Stadt verbreitet hatte. Aber die schaurigste Geschichte von allen handelte von Hester Proctor. Immer wieder berichteten Bewohner Hawthornes, wie sich am StraÃenrand plötzlich eine winzige Hand in ihre geschoben habe, als würde ein Kind darum bitten, sicher über die StraÃe geleitet zu werden - genau an der Stelle, an der die kleine Hester vor vielen, vielen Jahren von einem Pferdefuhrwerk niedergetrampelt worden war und starb.
Als sie selbst noch ein kleines Mädchen gewesen war, so hatte Tess einmal erzählt, hätten die Blumen in Hawthorne einen so überwältigenden schweren und süÃen Duft verströmt, dass die Menschen abends ihre Fenster schlossen, weil der Geruch sie sonst vom Essen abgelenkt hätte. Viele junge Mädchen seien dazu gezwungen worden, nachts bei fest verschlossenen Fenstern in der stickigen Hitze ihrer Zimmer zu schlafen, weil ihre Eltern befürchteten, der schwere Blumenduft
könne sie in wollüstige Ekstase versetzen und dazu verleiten, sich aus dem Haus zu schleichen und in den StraÃen nach jungen Männern zu suchen.
Und schlieÃlich gab es das Hawthorne von heute, das Maddie nur allzu gut kannte: eine Stadt voller kleingeistiger Menschen, die sich jeder Veränderung widersetzten, an Altbewährtem festhielten und jedem Fremden mit Argwohn begegneten. Eine Stadt voller Männer und Frauen, die alles zu zerstören versuchten, das fremdartig oder unerwünscht war. Allerdings war man sehr darauf bedacht, diese Seite von Hawthorne gut zu verbergen. Und doch war es genau diese Seite der Stadt, die Maddie zu der gemacht hatte, die sie war. Sie hatte es all die Jahre immer für sich behalten - für sich behalten müssen -, wie sehr das wahre Gesicht von Hawthorne sie einschüchterte und ihr Angst machte.
Am allermeisten Angst machte es ihr jedoch, dass sie letztendlich eine von ihnen war.
Seit Cordelias Verschwinden war mittlerweile ein ganzer Monat vergangen. Jeden Morgen trottete Maddie wie in Trance durch das raschelnde Laub zur Schule und achtete nicht darauf, dass sie im Unterholz ihre Stiefel zerkratzte. Sie hatte beinahe neun Kilo abgenommen und vergaà immer öfter, sich zu duschen. Ihre Mutter machte ihr Vorwürfe, weil sie ihr ÃuÃeres vernachlässigte, aber das war ihr egal. Sie wurde so sehr von Schuldgefühlen und Kummer aufgefressen, dass ihr alles andere sinnlos erschien.
Das Leben geht weiter, wie es so schön hieÃ, aber nicht für Maddie. Genauso wenig wie für Rebecca, die nichts anderes tat, als stumm am Fenster zu stehen und aufs Meer hinauszustarren, obwohl Tess sie täglich besuchen kam. Die Ãrzte sagten,
sie würde immer noch unter Schock stehen und an einer »posttraumatischen Belastungsstörung« leiden.
Für gewöhnlich begleitete Maddie ihre GroÃmutter zu Ravenswood Asylum, wartete aber in dem Teil der benachbarten Ruine von Fort Glover auf sie, der der Ãffentlichkeit zugänglich war. Das Fort selbst stand auf einem kleinen Erdhügel, der hoch oben über dem Meer auf einem Felsvorsprung
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