Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
als ich ihn verloren hatte. Der August 1989 stand rot eingekreist im Kalender. Über Nacht war die fiebrig ersehnte Reise ins verheißungsvolle BRD -Land zur Gewissheit geworden. Um Bestechungsgeld für die Ausstellung der Reisepässe aufzutreiben, hatte Mama ihren langen Zopf abgeschnitten und ihn an einen Krakauer Perückenmacher verkauft. Zum Preis von zwei Monatsgehältern erwarb Papa im Touristenladen Pewex zwei rosarote Kinder-Jogginganzüge mit Micky Maus vorne drauf. Doch anziehen durften wir sie nicht einmal in die Kirche. Diese unwirklich schöne Kleidung sollte allein auf deutschen Straßen betören.
In der Nacht vor unserer Abreise starrte ich auf die weichen Konturen der sauber gefalteten Jogginganzüge, die auf dem Stuhl bereitlagen. In wenigen Stunden, noch vor Sonnenaufgang, würden Tomek und ich sie zum ersten Mal anziehen. Zwei Wochen in Deutschland wären genug, hatte Mama gesagt. Aber wenn es uns dort wirklich gefiele, würden wir bleiben. Vielleicht für immer. Pst. Kein Wort zu niemandem. Es ist ein Geheimnis. An der Decke, im bernsteinfarbenen Licht der Straßenlaternen, tanzten die Schatten meiner polnischen Kindheit. Die Silhouetten zweier Mädchen, die ein langes Gummiband zwischen ihren Beinen aufspannten, während ein drittes Muster in das Band hüpfte. Keines dieser Mädchen war ich. Buntstiftgestrichelt sah ich Leon durch die Osterglocken huschen und Mops, der eine Wurstkette hinter sich herzog, Krankenschwestern mit Spritzen, dick wie Abflussrohre, Maria voll der Gnaden und die Strahlen aus Jesu Herz. Omas Haartürme wie Pappeln im Wind wiegend, ein ewiges Rauschen, und das Geplapper der Siedlungskinder, jedes ein Pferdchen auf dem Karussell, das sich immer schneller drehte, bis der Schlaf über mich kam.
Am nächsten Morgen schlichen wir uns leise aus dem Kastenhaus und pressten uns in das winzige Auto, zwischen Koffer und berstende Plastiktüten. Über der Erde schwebte gelber, milchiger Dunst. Nur der Hund war Zeuge, als Papa das Tor hinter sich schloss.
So rollten wir heimlich dahin, über Schlaglöcher und schiefe Betonplatten, vorbei an Schloten und Birkenhainen, während unsere Köpfe gegen das Dach des Wagens schlugen.
7.
Der Fluch der Klo-Hexe
Seit unser Dorf im Rückspiegel verschwunden war, hatte niemand ein Wort gesprochen. Tomek, der mit seinen drei Jahren zu klein war, um zu begreifen, warum Mama ihn um sechs Uhr morgens geweckt und in einen rosafarbenen Jogginganzug gesteckt hatte, schlief seelenruhig auf dem Rücksitz. Dass die Schlaglöcher in den vorbeiziehenden Ortschaften ihn alle paar Sekunden hochfliegen ließen, störte ihn wenig. Ich selbst war viel zu aufgeregt, um ein Auge zuzutun. Tausend Kilometer! Das war für mich eine unvorstellbare Entfernung. Als wir gegen Mittag auf die uneben geflickten Betonplatten rollten und zu beiden Seiten nur noch Kieferwälder zu sehen waren, brach das Knacken einer Dose endlich das Schweigen. Feierlich reichte Mama gesalzene Erdnüsse nach hinten.
»Zeit, sich an den westlichen Luxus zu gewöhnen«, erklärte sie. Mit gieriger Hand wühlte ich durch die Nüsse.
»Stopp!« Mama klopfte mir zügelnd auf die Finger. »Nur drei Nüsschen, für den Geschmack!«
»Was soll das heißen, wir müssen uns an den Luxus gewöhnen?«, knurrte Papa. »Ich muss mich an überhaupt nichts gewöhnen. Wir bleiben zwei Wochen in Deutschland. Dann fahren wir wieder heim.«
»Aber das können wir doch noch gar nicht wissen«, sagte Mama.
»Und ob wir das wissen können!«
Mama drehte mir den Kopf zu, schürzte die Lippen und ließ ihre großen Augen kullern.
»Marek ist schon zwei Jahre in Deutschland. Wenn es dort keine Chancen für uns gäbe, hätte er uns gar nicht eingeladen. Außerdem –«
»Ach was. Dieser Schlawiner!«, fuhr Papa unwirsch dazwischen. »Dem fehlt doch nur jemand, mit dem er Polnisch sprechen kann. Ihr werdet schon sehen, das wird alles überhaupt nicht funktionieren. Spart euch die Vorfreude. Zwei Wochen, und keinen Tag länger!«
Das waren Papas letzte Worte, bevor die Gläser seiner Brille sich verdunkelten und er die Hände noch fester ums Lenkrad krampfte.
Nach sieben Stunden Fahrt zwangen uns Sitzmüdigkeit, Hunger und Tomeks volle Windel, am nächsten Rastplatz haltzumachen. An diesem öden, eigenartig menschenleeren Ort gab es eine Tankstelle, die wie vergessenes Blechspielzeug vor sich hin rostete, und daneben ein längliches WC -Häuschen von blassem Braun. Um das Häuschen lief eine kleine,
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