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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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mitsprechen, kein Lied, das wir singen konnten, und von der Predigt verstanden wir auch kein Wort. Schließlich bat ich Gott im Stillen, er möge Papa endlich von den Vorteilen des Westens überzeugen. Ich schickte noch ein Gebet an die Jungfrau Maria hinterher und versprach ihr, fromm und artig zu sein, wenn sie mir auch in Deutschland zur Seite stünde.
    »Hat es euch gefallen?«, fragte ich meine Eltern nach der Messe.
    »Darüber kann ich nicht reden, ohne Gott zu beleidigen«, antwortete Mama. »Habt ihr das gesehen? Unter den Ministranten waren Mädchen! Was sind denn das für Sitten?«
    »Vielleicht waren das auch Jungs mit langen Haaren, wie dieser Typ, den wir gestern gesehen haben, der mit der kaputten Jeans«, meinte Papa.
    »Ja, vielleicht. Und was war mit der Kommunion? Ich kann nicht glauben, dass die Leute ihre Hostien stehend und auf die Hand empfangen. Der Leib Christi in unseren schmutzigen Pfoten! Tante Selma würde in Ohnmacht fallen, wenn sie das sehen könnte.«
    »Vielleicht hatten wir einfach nur Pech«, beendete Papa das Thema. »Ich schlage jedenfalls vor, dass wir jetzt sofort in dieses Lager fahren. Je früher wir da sind, desto besser. Wir wissen ja gar nicht, was uns erwartet.«

10.
Die Halle
    »Und hier soll es sein?« Mama kurbelte das Fenster runter und blickte umher wie das Rohr eines U-Boots. Wir hatten auf einem trostlosen, kiesigen Gelände geparkt und schauten auf fabrikartige Gebäude zwischen Büschen und Müllcontainern.
    »So hat Marek es auf der Karte eingezeichnet«, bestätigte Papa. »Ich werde mir das mal ansehen!«
    Eine halbe Stunde später kam Papa auf wackligen Beinen wieder, doch seine Herrenhandtasche trug er jetzt stolz über die Schulter geworfen, als hätte er eigenhändig ein Raubtier erlegt.
    »Wir sind hier tatsächlich richtig!«, berichtete er freudestrahlend. »Ich habe uns auch schon registrieren lassen. Wir bekommen vier Betten und dreimal täglich zu essen! Gut, oder?«
    »Na so was«, sagte Mama. »Und wo genau sollen wir hier wohnen? Hast du einen Zimmerschlüssel bekommen?«
    »Nun, da gibt es ein kleines Problem«, sagte Papa nervös. »Wir müssen mit anderen Aussiedlern in einer Turnhalle schlafen.«
    In Polen hatte ich ein Suchbild besessen, das so groß war, dass man es zum Betrachten mehrmals aufklappen musste. Darauf war ein Durcheinander von Menschen und Situationen, Straßen und Gebäuden, Kindern, Tieren und Gegenständen zu sehen, und es wimmelte darin so bunt, dass man sich immer wieder in der Fülle der Details verlor. An dieses Bild musste ich denken, als sich das Innere der Turnhalle vor uns auftat. Da waren Etagenbetten über Etagenbetten, von deren Gerüsten kleine und große Kinder baumelten, da lagen und stapelten sich Hunderte von Koffern und Taschen, aus denen Ärmel und Hosenbeine lugten. Da saßen Männer, die Skat auf umgedrehten Bierkästen spielten, während tratschende Tanten durch die Bettreihen flanierten. Durch die weit offenen Türen fegte der Wind alte Zeitungsblätter über den Boden, brüchiges Laub und knisterndes Bonbonpapier. Es wurden Haare geschnitten, Bücher gelesen, Kinder ausgeschimpft, Würstchen gereicht, und hin und wieder flatterte eine Taube herein, um Brotkrumen zu picken. Ein ganzes Dorf hatte in der Turnhalle Platz gefunden, und nur wir standen wie Fremde da, verzweifelt nach dem Unwahrscheinlichsten spähend; einer leeren Stelle, wo wir uns niederlassen konnten.
    »Mutter Gottes von Tschenstochau«, flüsterte Mama, während sie uns beschützend an sich zog. »In Polen hatten wir ein Haus, jetzt sind wir obdachlos!«
    Als hätte Tomek die Bedeutung ihrer Worte verstanden, brach er in ein fürchterliches Wehgeschrei aus.
    »Es ist doch nur für den Übergang«, versuchte Papa Mama zu besänftigen. Seit dem Verlassen der Kirche hatte er nicht mehr gegrummelt. Offenbar hatte Gott mein Gebet erhört. Schade nur, dass Papas Sorgen sich nicht einfach in Luft aufgelöst hatten, sondern zu Mama übergewandert waren, die sich die Haare raufte und mit den Tränen kämpfte. Mit unserem Gepäck und dem weinenden Tomek durchkämmten wir Bettenreihe für Bettenreihe, doch weit und breit waren keine freien Matratzen zu sehen. Als Mama auch noch der Riemen ihrer Tasche riss, war es mit ihrer Beherrschung vorbei.
    »Jetzt müssen wir unter der Brücke schlafen!«, jammerte sie. »Mit zwei Kindern!«
    »Kommen Sie«, hörten wir plötzlich eine warme Stimme sagen. Hinter uns stand eine ältere Dame und zupfte

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