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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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meine Mutter am Ärmel. Sie hatte funkelnde Teddybärenaugen und eine zerzauste Frisur, die in alle Himmelsrichtungen abstand.
    »Wo ich schlafe, sind noch drei Betten frei«, sagte sie zwinkernd. »Wenn Sie den Kleinen mit in Ihr Bett nehmen, kann die ganze Familie zusammen sein. Nun kommen Sie schon!«
    »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, schluchzte Mama, als die Frau uns zu den freien Schlafplätzen führte.
    »Hören Sie auf. Das ist doch selbstverständlich. Ich heiße Maria Kellermann. Ich bin alleine hergekommen. Mein Mann ist vor kurzem gestorben, und die Tochter lebt in Amerika. Ich weiß, wie Sie sich fühlen müssen in diesem Durcheinander, so ganz auf sich allein gestellt. Wollen wir gleich gemeinsam zu Mittag essen?«
    »Das wäre wunderbar«, sagte Mama und wischte sich lächelnd eine Träne aus dem Gesicht.
    »Und wenn Sie Lust haben, gehen wir nach dem Essen spazieren, und ich zeige Ihnen, wo Sie einkaufen können und wo hier die Kirche ist.«
    »Die Sonntagsmesse haben wir schon besucht«, verriet Papa.
    »Eine deutsche?«
    »Natürlich.«
    »Können Sie Deutsch?«
    »Wir haben nur ›Amen‹ verstanden.«
    »Ach herrje!«, lachte Frau Kellermann. »Es gibt doch auch eine polnische Messe hier in der Stadt. Wären Sie eine Stunde früher gekommen, hätten Sie in der Halle keine Menschenseele angetroffen.«
    »Messen auf Polnisch? Was es hier nicht alles gibt!«
    »Aber ja. Die deutschen Kirchen könnten dichtmachen, wenn wir Polen sie nicht ab und zu füllen würden.«
    »Ich traue mich ja gar nicht, das zu sagen«, druckste Mama herum, »aber die deutsche Messe war wie eine Beerdigung ohne Leiche. Ich hätte zu gern die polnische besucht. Allein schon, um etwas zu verstehen. Schade, dass wir nur ein paar Tage hier bleiben.«
    Frau Kellermann machte große Augen.
    »Ein paar Tage? Das war vielleicht vor zwei Jahren noch so, als die Leute noch nicht massenweise ausgewandert sind. Stellen Sie sich lieber drauf ein, dass es mit der Beschaffung der Dokumente etwas länger dauert … Aber machen Sie sich keine Sorgen«, sagte sie, als sie Mamas ängstlichen Blick bemerkte, »ich spreche sehr gut Deutsch. Meine Eltern waren echte Deutsche aus Oberschlesien. Wenn Sie möchten, dolmetsche ich für Sie. Das wird Ihnen vieles erleichtern.«
    Von draußen ertönte ein dröhnendes Signal, und im nächsten Moment strömten Menschen in Gruppen hinaus.
    »Das Mittagessen wird ausgeteilt«, verkündete Frau Kellermann. »Wollen wir?«
    Seit Onkel Marek uns in die kulinarischen Vorlieben der Deutschen eingeweiht hatte, hatte ich mir ausgemalt, wie es bei ihren Mahlzeiten wohl zugehen mochte. Aßen sie Chinesisches wie die Chinesen und Türkisches wie die Türken? Und wenn sie alles auf ihre Weise aßen, reichten sie die Speisen auf Pappe, wie Onkel Marek uns die Pizza serviert hatte, oder altmodisch wie bei Oma Greta auf Porzellantellern, um die sich kleine Rosenknospen rankten? An der Essensausgabe stellte sich heraus, dass die Wirklichkeit meine Vorstellungen um Längen übertraf. Jeder von uns bekam eine silbern umhüllte Schale in die Hände gelegt, die aussah wie ein Raumschiff. Sobald man den silbernen Deckel abzog, wurde man von einem außerordentlichen Anblick überrascht: Die Nahrung dampfte aus drei Einzelkammern, drei Raumkapseln aus perlweißem Plastik. Der Luxus eines eigenen Zimmers, für die meisten polnischen Kinder ein ferner Traum, wurde in Deutschland sogar Erbsen, Kartoffeln und Würstchen zuteil! Zum Nachtisch gab es Früchte und Götterspeise aus durchsichtigen Bechern, mit einer köstlichen Puddingschicht obendrauf. Diese Turnhalle konnte keine Notunterkunft sein, nein. Das war ein modernes Notparadies. Wenn der Himmel mal aus allen Nähten platzt, dachte ich, wird es in Gottes Zelten zugehen wie hier.
    Die erste Nacht in der Turnhalle war ein großes Abenteuer. Nachdem die Deckenbeleuchtung ausgegangen war, machten sich Dutzende von Taschenlampenstrahlen auf Wanderschaft durch die Dunkelheit. Wer nicht schlafen konnte, hütete sein Gepäck und das seiner Bettnachbarn oder streunte draußen über das Gelände. Schnarchen, Kinderschluckauf und schlurfende Latschen, das Öffnen und Schließen der Türen, Geflüster, Schluchzen und Nasch-Geraschel fügten sich zu einem Konzert, dem ich mit geschlossenen Augen ergriffen lauschte. Plötzlich gesellten sich piepsende Töne hinzu, die sich nach und nach zu einer vertrauten Melodie fügten. Es war »Wlazł kotek« , das bekannteste

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