Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
Manchmal blieb er drei Stunden, manchmal nur zehn Minuten, doch die Regelmäßigkeit seiner Besuche gab meiner Mutter Anlass, ihn als künftigen Schwiegersohn zu betrachten. Das war etwas, für das ich mich furchtbar schämte. Oma war gegen eine Heirat, da sie Anstoß an Dominiks kindersztuba nahm. Besonders bemängelte sie, dass Dominik alles, was ihm bei uns zu essen oder zu trinken angeboten wurde, sofort gierig an sich riss. Solche Manieren waren mit dem polnischen Höflichkeitsverständnis nicht vereinbar. Schon früh hatte ich gelernt, dass es sich gehörte, Hunger und Durst mitzubringen, wenn man auf Besuch ging. Allerdings musste man die Angebote, die einem vom Gastgeber gemacht wurden, aus Höflichkeit mehrmals abschlagen, bevor man sie schließlich – scheinbar besiegt – annehmen konnte. Dieses Hin und Her hatte sich in etwa so abzuspielen:
»Möchtest du etwas essen?«
»Nein, nein, mach dir keine Umstände.«
»Ach wo! Das macht mir überhaupt keine Umstände!«
»Nein, wirklich, ich will nichts.«
»Aber ich hätte da diesen leckeren Streuselkuchen …«
»Weißt du, ich bin eigentlich gar nicht hungrig.«
»Dann vielleicht einen Kaffee?«
»Hör doch auf. Ein Tee würde mir völlig reichen.«
»Gut. Dann mache ich dir einen warm.«
»Du bist ein Herz. Aber das ist doch gar nicht nötig.«
Meistens endete es damit, dass der Gast Stunden später so viel gegessen und getrunken hatte, dass er aus eigener Kraft nicht mehr aus dem Sessel kam.
Ende April, als es endlich wärmer wurde und man draußen keine Jacke mehr brauchte, bauten Dominik und ich uns eine Bude im Gestrüpp hinter der Baracke.
Wir sammelten Bretter, auf die wir Knight-Rider-Sticker klebten, arrangierten Obstkisten zu Sitzmöbeln und brachten einander Schimpfwörter bei. Toilettentieftaucher war mein Favorit, und Dominik gefiel es, dass Oma ihn manchmal idjotenkranz nannte. Manchmal trafen wir uns gleich nach dem Unterricht, und ich half ihm bei den Hausaufgaben. Aber in der Schule taten wir, als würden wir uns nicht kennen. Damit uns niemand für ein Liebespaar hielt. Liebe war was für Blödmänner, darüber waren wir uns einig. Ich hatte Dominik von Bajtek erzählt, der seit seinem 11. Geburtstag nur noch mit reifen Frauen, also 12-jährigen, Umgang pflegte, und Dominik berichtete mir vom neuen Freund seiner Mutter, den er verächtlich »Macker« nannte.
Jeden Tag wunderte ich mich aufs Neue darüber, dass ausgerechnet Dominik und ich Freunde geworden waren. Vor kurzem hatte ich ihn noch gefürchtet, regelrecht gehasst. Nun gefielen mir seine unregelmäßig gewachsenen Hasenzähne, das eigentümliche Nackenschwänzchen und seine T-Shirts, auf denen immer irgendwelche magischen amerikanischen Wörter standen wie ACTIVE , POWER , SPIRIT und FRESH .
Indessen waren meine Eltern auf Wohnungsjagd. Abends durchkämmten sie das Viertel und suchten die Wohnhäuser nach Fenstern ab, in denen keine Gardinen hingen. In Polen hätte das bedeutet, dass die Wohnung frei stand, denn wo ein Zuhause war, da waren immer auch Gardinen. Aber sooft Mama und Papa die Nasen an die Fensterscheiben drückten, um einen Blick ins Innere dessen zu erhaschen, was sie für ihre zukünftige Wohnung hielten, wurde ihnen mit einer Anzeige gedroht. Hinter den gardinenlosen Fenstern lebten in Deutschland nämlich sehr wohl Menschen.
Schließlich ließ Mama sich überreden, hin und wieder Geld für eine Zeitung auszugeben – wegen der Annoncen. Aber die angebotenen Wohnungen waren so teuer, dass wir es uns nicht einmal leisten konnten, darüber nachzudenken. Nachdem Frau Ogórkowa ihnen dazu geraten hatte, schrieben meine Eltern sich bei einer Wohnungsgesellschaft ein, die staatlich geförderte Sozialwohnungen an Aussiedler vermittelte.
Eines Tages, Ende Mai, wurde ich von der ganzen Familie aus der Schule abgeholt. Meine Eltern strahlten wie Neugeborene, und auch Oma trug die Nasenspitze höher als sonst.
»Ich konnte es kaum erwarten, dir zu zeigen, was heute gekommen ist«, sagte Mama und fuchtelte aufgeregt mit einem Blatt vor meinem Gesicht herum. Es war ein Brief von der Wohnungsgesellschaft. Er enthielt unsere zukünftige Adresse und eine Beschreibung der Wohnung: vier Zimmer, Küche, Bad, Balkon, Keller. »Die Wohnung befindet sich im dritten Obergeschoss. Die Haus- und Wohnungsschlüssel werden Ihnen am 1. 6. zwischen 16:00 und 18:00 Uhr von Frau Bützchen ausgehändigt.«
»Kannst du es fassen?«, jauchzte Mama. »Unser Traum ist wahr
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