Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
geben.«
Ich kramte einen Zettel aus meiner Hosentasche. »Hier«, sagte ich und hielt ihm den Zettel hin. »Unsere neue Adresse.«
»Interessiert mich nicht.« Dominik ließ mich mit ausgestrecktem Arm stehen. »Geht doch zurück nach Polen!«
Dann drehte er sich um, ohne mich anzuschauen, und eilte mit großen, schnellen Schritten davon.
Während ich zum allerletzten Mal meinen Schulweg ging, klang »irgendwann im Herbst« so weit weg wie »wenn wir erwachsen sind«.
»Auf, auf! – sprach der Fuchs zum Hasen! Hörst du nicht den Jäger blasen?« So hatte Oma uns am Umzugstag aus den Betten gebrüllt. Schon um acht in der Früh schleppten wir unser gesamtes Hab und Gut aus dem Barackenzimmer in den Fiat, und Papa musste drei Runden drehen, bevor am Nachmittag im Auto endlich Platz für uns war.
Als wir in der neuen Wohnung aufschlugen, hatte Papa im großen Zimmer neben der Tür bereits alles abgeladen, was wir besaßen: die Koffer, mit denen wir nach Deutschland gekommen waren, zwei Müllsäcke mit Caritas-Kleidung, die nicht mehr hineingepasst hatte, ein Fernseher, eine Kiste mit Spielzeug sowie Matratzen, Handtücher, Kissen und Decken. Frau Bützchen hatte uns freundlicherweise ihren Tapeziertisch zur Verfügung gestellt, der uns als Esstisch dienen konnte, solange wir noch keinen hatten.
»Das haben wir hinter uns«, seufzte Mama glücklich, als die Tür hinter uns zufiel. »Keine Notunterkünfte, keine Übergangslager mehr. Endlich ein würdiges Leben.«
Wie berauscht liefen wir durch die Zimmer, öffneten Türen und Fenster und ließen unsere Stimmen gegen die Wände hallen.
Zur Feier des Tages, aber hauptsächlich weil wir noch keinen Herd in der Küche hatten, holte Papa Pommes und Cola aus dem Imbiss. Bis zum Abend saßen wir auf wackelnden Getränkekisten und taten nichts anderes, als aus dem Fenster auf die grünen Baumwipfel zu schauen und uns an der gewonnenen Freiheit zu erfreuen.
Als die Dämmerung einbrach, zog jeder seine Matratze in das Zimmer, das er sich ausgesucht hatte. Oma wollte im Wohnzimmer schlafen, wo sie vom Balkon aus die beschauliche Stille genießen konnte. Ich hatte mich für ein kleines Zimmer mit Blick auf den Bahnhof entschieden und zog mich glücklich darin zurück. In dieser Nacht flatterten durch die Leere unendliche Möglichkeiten.
Das Dorf, in dem wir jetzt lebten, war ein Idyll mit plätscherndem Fluss, in dem es weder eine Plattenbausiedlung noch eine Dönerbude gab. Statt Jugendlichen auf Skateboards begegnete man draußen nur Großmütterchen mit spangenverzierten Terriern, die Geld für Begräbnisse sammelten. Nach dem ersten Kirchenbesuch in der Gemeinde entdeckte ich eine kleine katholische Bibliothek, die man jeden Sonntag im Anschluss an die Zehnuhrmesse besuchen konnte. Es gab darin drei Regale, die mit alten, vergilbten, muffig-süß duftenden Büchern gefüllt waren. Ich fand es wundervoll dort. Die nette Bibliothekarin hatte mich gleich angesprochen und mir einen Ausweis ausgestellt. Sie hatte an meinem Akzent erkannt, dass ich aus Polen war, und als ich ihr verriet, dass ich deutsche Geschichten lesen wollte, nahm sie sich viel Zeit, besondere Bücher für mich rauszusuchen. Meine erste Lese-Portion bestand aus »Max und Moritz«, »Peterchens Mondfahrt« und »Der Trotzkopf«.
Zu Hause machte ich mich sofort ans Lesen, glücklich, dass ich die ganzen Sommerferien damit verbringen konnte. Wenn ich ein Wort nicht verstand, fragte ich Oma, und Ausdrücke, die sie nicht kannte, schrieb ich mir raus und schlug sie später in Papas Wörterbuch nach, bevor ich – nun mit Verständnis – alles Gelesene noch einmal las. Ich merkte mir drollige Bezeichnungen wie Backfisch , Trine und Hosenmatz . Bald wollte ich mein Brot nicht mehr essen, sondern es verzehren . Ich blieb nicht in meinem Zimmer, ich verweilte darin. Und statt einfach traurig zu sein, dünkte mir die ganze Welt ein Jammertal .
Während ich las und las, hatten meine Eltern die gesamte Wohnung tapeziert. In der Küche rankte der Efeu, im Flur fügten rote Ziegelsteine sich zu einer Mauer, die nur durch unglückliches Zusammentreffen der Tapetenkanten ihre papierne Substanz verriet, und bei Tomek wölbten sich bald rosa Elefanten und blaue Bären auf der Wand.
Auf Anraten von Onkel Marek, der uns seit dem Umzug regelmäßig besuchte, bestellten meine Eltern im Katalog günstige Wohnzimmermöbel. Es war eine Schrankwand, der Onkel Marek wegen der deprimierenden Form der Glasvitrine den
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