Skagboys 01
Licht, wie es sich über die Burg legte und die Straßen der Altstadt in silberne Flüsse verwandelte. Es war der schönste Ort der Welt, und nichts konnte einem Vergleich standhalten. Auch die Bäume waren wunderschön anzusehen. Unvorstellbar, dass sie abgeholzt werden sollten.
Alison ging gerade unter einem Baugerüst hindurch, als vier betrunkene Mädchen an ihr vorbeitorkelten. Sie lagen sich singend in den Armen und wirkten, als würden sie Junggesellinnenabschied feiern. Neidisch drehte sie sich um und schaute zu, wie die vier vergnügt die Straße hinaufstolzierten. Nur zu gerne hätte sie den Grund für die Ausgelassenheit der Mädchen erfahren. Durch diese Begegnung inspiriert, fasste Alison Vertrauen in ihre spontanen Impulse und ging in eine schmucklose Bar im Schatten der Burg. Es war noch früh am Tag, und so gab es außer ihr keine Gäste. Ein stämmiges, mürrisch dreinblickendes Mädchen mit einem verurteilenden Blick in den Augen schenkte ihr ein Glas Weißwein ein. Alison setzte sich auf einen Stuhl unter dem Fenster und nahm einen abgegriffenen Scotsman zur Hand. Der Gedanke amüsierte sie: Schon wieder greife ich mir einen abgelegten Schotten.
Mit Daumen und Zeigefinger fuhr sie am langen Stiel des Weinglases auf und ab und betrachtete die urinfarbene Flüssigkeit, die sich darin befand. Beim ersten Schluck von der sauren, nach Essig schmeckenden Substanz musste sie sich fast übergeben. Der zweite war schon besser, aber erst der dritte konnte ihren Geschmacksknospen schmeicheln. Sie blätterte die Zeitung durch und blieb bei einem der Leitartikel hängen:
Dem Ministerium für schottische Angelegenheiten und der Stadtverwaltung von Edinburgh gebührt großes Lob für die rechtzeitige Einleitung von wirksamen Maßnahmen gegen die gefährlichste Epidemie, die die schottische Hauptstadt je bedroht hat. Die erbarmungslose Vernichtung unserer Baumlandschaft durch das Holländische Ulmensterben löscht auch einen großen Teil der Geschichte und der Tradition dieser Stadt aus und betrifft damit alle Bewohner Edinburghs. Die Plage hat große Opfer gefordert, wäre aber ohne die zeitnah und rigoros umgesetzte Strategie des prophylaktischen Fällens und Verbrennens betroffener Baumbestände weitaus verheerender verlaufen.
Alisons Augen wanderten nach unten, zur Leserbriefabteilung. Es waren die Zeilen eines Hausarztes aus einer der großen Sozialsiedlungen Edinburghs, die ihre Aufmerksamkeit erregten. Er berichtete darüber, dass mittels zufällig vorgenommener Blutuntersuchungen ein außerordentlich hoher Prozentsatz an Aids-Infektionen entdeckt worden war. Sie sah sich die schmerzenden Einstichstellen an ihren dünnen Handgelenken an.
In ihrem Kopf kam ein Bild auf: auf der einen Seite die verrottenden Bäume neben der West Granton Road, auf der anderen Seite gelangweilte Menschen in heruntergekommenen Sozialbauwohnungen. All dieser Tod. All dieses Verderben. Woher kam das alles bloß? Was hatte es zu bedeuten?
Was würde nun passieren?
Sie verließ die Bar und dachte auf dem Nachhauseweg über diese Frage nach. Ein starker Wind war aufgekommen, der durch alle Ecken und Winkel pfiff und die Stadt wie eine Filmkulisse aus instabilem Pappmaschee wirken ließ. Eigenartig, dass ein Ort, der um eine Felsenburg herum gebaut worden war, so fragil wirken konnte. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass ebenjener Felsen momentan mit Baugerüsten übersät war, auf denen allerlei Experten versuchten, seine weitere Zersetzung zu verhindern.
Alison ging die Lothian Road hinunter, bog auf den östlichen Teil der Princes Street Gardens ein, um am Ende der Straße auf die Leith Street zu gelangen und von dort über den Walk zu ihrer Wohnung in Pilrig. Als sie eingetreten war, hängte sie zuerst ihre Jacke auf. Anschließend stellte sie sich vor den Badezimmerspiegel.
Sie dachte über ihre Mum nach: wie sie es geliebt hatte, sich mit Ali auf einen Kaffee zu treffen, um ihrer Tochter Einkäufe zu präsentieren – ein Top oder ein Paar Schuhe –, über Nachbarn und Verwandte zu tratschen oder einfach nur vom Fernsehprogramm zu erzählen. Als sie sich die Hände wusch, fiel ihr wieder ein, dass sie die Handtücher in den Wäschekorb gelegt hatte. Sie ging zum Schrank und holte ein paar frische Handtücher. Da fiel sie ihr ins Auge, die Rasiertasche, die Alexander bei ihr gelassen hatte. Ganz einsam stand sie weit hinten im Schrank. Ali öffnete den Reißverschluss und sah sich den Inhalt an: Pinsel, Rasiermesser
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