Skagboys 01

sehen, hat sie bisher für unmöglich gehalten. Doch es ist besser so, denn sie ist verdammt nah dran gewesen, den Morphinvorrat ihrer Mutter preiszugeben. Der Teufel soll sie alle holen! Gerade herrscht Dürre, und niemand weiß, wie lange der Lieferengpass noch andauern wird. Sie verzehrt sich nach der silberfarbenen Nadel und stellt sich vor, wie sie sich mit dem Morphin einen letzten Tropfen mütterliches Blut in ihre hungrigen Venen schießt. Mum hätte gewollt, dass ich das kriege.
    Einmal mehr sind Renton und Sick Boy auf dem ihnen nur allzu vertrauten Weg Richtung Tollcross unterwegs. Den Walk runter, dann über die Bridges und durch die Meadows, ohne ein Wort zu wechseln oder einander anzuschauen. Ihr Schweigen ist wie ein Pakt: Noch sind sie nämlich in der Lage, die Schwere ihres persönlichen Leidens mit purer Willenskraft zu negieren. Als sie bei Swanney ankommen, ist keiner da. Das Gebäude wirkt wie ein leerer Filmset. — Was jetzt?, fragt Sick Boy.
    — Wir gehen weiter, bis wir eine Lösung finden … oder wir legen uns hin und krepieren wie Hunde.
    Walk on through the wind …
    Walk on through the rain …
    Ein Spaziergang am frühen Morgen mit unserem Großvater. Billy und ich waren gelangweilt. Es nieselte, und uns war kalt, weil wir ständig auf unseren keuchenden Opa warten mussten. Es war absurd. Längere Strecken durch die Gegend zu spazieren, war einfach zu viel für ihn. Hinter dem Tower hielt er plötzlich an, erstarrte zu einer Salzsäule und holte tief Luft. Es war, als würde der Granatsplitter in das Zentrum seines Körpers gesogen. Ein eigenartiges Lächeln umspielte seine Lippen, das im darauffolgenden Moment jedoch von einem ruckartigen Husten hinweggefegt wurde, als er wie in Zeitlupe umkippte und auf den Asphalt fiel. — Bleib du hier!, meinte Billy zu mir. — Ich hole Hilfe! Er rannte die Promenade hinunter, sprach zwei Teenager an, die ihn nur verwirrt ansahen, und raste dann über die Straße. Billy war nur zu den Geschäften gelaufen, um einen Krankenwagen zu rufen. Ich aber dachte, er würde davonrennen und mich allein in dieser schrecklichen Situation zurücklassen.
    Though your dreams be tossed and blown …
    So musste ich mit ansehen, wie mein Großvater starb. Ab und an, wenn mich die Vorstellung seines nahenden Todes überwältigte, blickte ich aufs Meer hinaus. Während er so dalag – mit purpurrotem Gesicht, um Luft ringend – und seine amphibienhaft anmutenden Augen verdrehte, die ihm im Todeskampf fast aus dem Kopf traten, wurde ich den Eindruck nicht los, dass er aus dem Ozean gekommen und, von der Ebbe überrascht, hier gestrandet war. Auch wenn es absolut keinen Sinn machte, wollte ich den Leuten sagen, dass sie ihn ins Wasser bringen sollten. Ich fühlte die Frau, bevor ich sie sah. Sie war so alt wie meine Ma, vielleicht auch ein bisschen jünger, und tröstete mich. Ihr Busen dämpfte mein Schluchzen, das ich bis dahin noch nicht mal bemerkt hatte. Zwei Männer versuchten noch, Opa zu helfen, aber er war schon von uns gegangen.
    Walk on …
    Billy kam wieder zur Promenade gerannt und starrte mich vorwurfsvoll an. Ich hatte das Gefühl, dass er mich verprügeln wollte, weil ich es nicht geschafft hatte, Opa Renton bis zum Eintreffen des Krankenwagens am Leben zu halten. Ich erinnere mich noch, dass diese Frau mich mit sich nehmen wollte und ich auch bereit war, ihr zu folgen, weil sie so nett zu mir war. Billy aber fertigte sie mit einem düsteren Blick ab und nahm meine Hand. Als sie Opa abtransportiert hatten, legte er seinen Arm um meine Schulter und kaufte uns beiden ein Eis für den schweigsamen Weg zurück zum Gästehaus. Als wir ankamen, waren Ma, Dad und Grandma Renton gerade unterwegs. Nur Tante Alice war da und kümmerte sich um uns.
    Die Heimfahrt mit dem Bus: Granny Renton saß schweigend und vom Schock gezeichnet auf ihrem Platz, während ich gedankenversunken meine Fußballaufkleber von Shoot in das Sammelalbum einklebte. Manchester City: Colin Bell, Francis Lee, Mike Summerbee, Phil Beal, Glyn Pardoe, Alan Oakes. Kilmarnock: Gerry Queen, John Gilmour, Eddie Morrison, Tommy McLean, Jim McSherry.
    Ich erinnere mich noch daran, wie sich meine Ma, den entrückt murmelnden Klein Davie auf dem Schoß, besorgt an meinen Dad wandte: — Warum sagt er nichts, Davie? Mein alter Herr aber war wie in Trance. Gelegentlich drückte er die Hand meiner Mutter. — Das ist der Schock … das wird schon wieder …, antwortete er mit krächzender Stimme.
    Walk