Skalpell Nr. 5
anvertraut, aber nicht seinem besten Freund. Er legte ihr eine Hand auf den Rücken. »Er hatte ein gutes und langes Lebens. Er hat dich Montagabend noch gesehen – du weißt ja, dass er dich vergöttert hat –, und dann hat er bis zur letzten Minute, bis zum letzten Atemzug gearbeitet.«
»Ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob er mich vergöttert hat, aber dass ich ihn vergöttert habe, weiß ich genau.« Elizabeth stockte und trocknete sich die Augenwinkel mit einem Taschentuch. »Meistens sagen Freunde und Bekannte bei solchen Gelegenheiten so was wie: ›Melde dich, wenn ich irgendwas für dich tun kann.‹ Weißt du, Jake, du könntest wirklich was für mich tun, falls es dir nichts ausmacht.«
Die Bitte war fast eine Erlösung. »Heraus damit.«
»Ich schaff es einfach nicht, jetzt schon das Cottage zu betreten. Aber irgendwer muss hinfahren. Mrs. Alessis, Dads Haushälterin, hat erzählt, dass am Wochenende eingebrochen worden ist.«
Jake wurde vor Zorn fast schwindelig. Das war wirklich der Gipfel. »Ist was gestohlen worden?«
»Schnaps und Pfeifentabak. Wahrscheinlich ein paar Jugendliche.«
»Trotzdem, so was ist einfach mies.« Er musste daran denken, wie er Pete das letzte Mal lebend gesehen hatte, ein Glas in der einen Hand, die Pfeife in der anderen. Richtig zufrieden.
»Die Möbel gehen an die Wohlfahrt. Die Haushälterin hat gesagt, sie würde noch so lange bleiben, bis alles abgewickelt ist. Aber sein Arbeitszimmer –« Ein Schaudern durchlief sie. »Er hätte bestimmt gewollt, dass du alles bekommst, was drin ist. Seine Bücher, die Knochen und Schädel, die ganzen Obduktionsfotos, weiß der Himmel was noch alles. Wenn du hinfährst, könntest du einfach alles mitnehmen, was du haben möchtest, und den Rest einer Universität oder einem Museum vermachen. Würdest du das tun?«
Er hatte absolut kein Verlangen danach, das Cottage noch einmal zu betreten. »Klar«, sagte er. »Das mach ich gern.«
Jake wusste, dass er die Arbeit nicht allein schaffen würde, und Wally musste ihn im Büro vertreten, also verpflichtete er seinen einzigen Bruder. Sam war sieben Jahre jünger als er, lebte aber im Grunde wie ein Hippie; er wohnte in Greenwich Village, ging zu Vernissagen und Performances, trank Latte macchiato in Straßencafés. Er hatte es irgendwie gedeichselt, eine Sozialwohnung zu behalten, und sein Freundeskreis bestand aus lauter Künstlern, obwohl er selbst keiner war. Anders als seine Freunde trank er keinen Alkohol, rauchte nicht, nahm keine Drogen und hielt sich nahezu fanatisch fit. Jeden Samstag schlief eine Frau mit einem Traumkörper an seiner Seite, aber niemals war Jake derselben zweimal begegnet.
Sam hatte langes, vorzeitig ergrautes Haar und einen Körper, den er mit jahrelangem Yoga und Tai-Chi schlank gehalten hatte. Eine Zeit lang war er zu seinen jüdischen Wurzeln zurückgekehrt, hatte eine Jarmulke getragen und aufgehört, am Sabbat fernzusehen, aber das hatte nur wenige Wochen angehalten. In Jakes Augen war Sam noch keinem Guru begegnet, den er nicht sympathisch fand. Er stürzte sich in regelmäßigen Abständen auf eine neue Philosophie, die er dann jeweils für den »einzig wahren Weg« hielt.
»Wovon lebt er eigentlich?«, fragten manche. Das blieb ein Geheimnis: Jake hatte keine Antwort darauf, und Sam verriet es ihm nicht. Als Jake ihn fragte, ob er mit ihm zusammen nach Turner fahren würde, hatte Sam selbstverständlich Zeit. »Das wird gut für die Zentrierung«, sagte er begeistert.
Sie erreichten das Cottage gegen zehn Uhr morgens. Im Vorgarten war ein Zu-VERKAUFEN-Schild aufgestellt, die Haustür stand offen, und die Vorhänge und ein Großteil der Möbel waren verschwunden. »Mrs. Alessis«, rief Jake, »ich bin’s, Jake Rosen. Wir haben telefoniert.«
Eine Frau mit einem Tuch um den Kopf und rund vierzig überflüssigen Pfunden auf den Hüften erschien. Sam lächelte sie an, als wäre sie ein Bananensplit und er der Eislöffel. Er bedachte, wie Jake wusste, jedes weibliche Wesen, ob nun neunzehn oder neunzig, mit diesem Blick.
»Nett, Sie persönlich kennenzulernen«, sagte Jake. »Ich bin Jake Rosen, und das ist mein Bruder Sam.«
Sam warf seinen Pferdeschwanz herum. »Sehr erfreut.«
Sie lächelte. »Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«
»Wir sollten uns lieber gleich an die Arbeit machen«, sagte Jake.
»Ich hätte furchtbar gern ein Tässchen«, sagte Sam. Er trug ein T-Shirt von Diesel und eine Cargohose.
Sam und Mrs. Alessis
Weitere Kostenlose Bücher