Skalpell Nr. 5
STADT NEW YORK.
»Darin wird verlangt, dass Sie Dr. Harrigans Habe an sie zurückgeben«, erklärte Travaglini. »Es geht ihr nur um die Dinge, die Sie aus seinem Haus geholt haben, sonst nichts.«
Was soll das? Was geht hier vor? Wissen sie, dass Pete die Knochen hatte? Angst kroch ihm den Rücken hinauf wie Feuer an einer Zündschnur. »Was ist, wenn ich ablehne?«, fragte er.
»Dann wird die Stadt Sie nicht unterstützen. Das Recht ist auf ihrer Seite. Sie hat die Sachen der Catskill Medical School gestiftet, für eine Bibliothek, die nach ihrem Vater benannt werden soll. Und sie ist einflussreich – bedenken Sie, sie ist nicht bloß Harrigans Tochter, sie ist Bundesanwältin.«
»Schwachsinn!« Das Wort entfuhr ihm, ehe seine Vernunft es zurückhalten konnte.
»Mag ja sein. Egal wofür sie sie haben will, sie stehen ihr zu. Und just in diesem Moment warten schon Beamte des Sheriffs vor Ihrem Haus. Ihr Bruder ist da, aber er will sie nicht ohne Ihre Erlaubnis reinlassen. Bitte rufen Sie ihn an. Sie haben keine andere Wahl.«
Jake ging an seinen Schreibtisch und wählte seine Privatnummer. »Lass die Männer rein«, wies er seinen Bruder an. »Gib Ihnen die Kartons mit Harrigans Sachen oben auf dem Speicher.«
Sam würde das verstehen. Von der Kassette unten im Safe sagte er nichts.
16
J ake erreichte Manny auf ihrem Handy, als sie gerade zu seinem Haus unterwegs war, und erzählte ihr von seinem Gespräch mit Travaglini. »Jetzt müssen Sie sich nicht mehr mit Sam treffen«, sagte er. »Der ist schon los und besucht seinen Kurs über tantrischen Sex.«
Sie war erleichtert. Auf ihrem eigenen Schreibtisch wartete schließlich genug Arbeit auf sie: Sie musste noch einmal mit Mr. Williams sprechen, der die New Yorker Feuerwehr wegen seines Schleudertraumas verklagt hatte, die letzten Schriftsätze im Abschiebefall Cabrera diktieren und sich endlich um die Buchhaltung kümmern. Zur Belohnung würde es dann ein spätes Abendessen mit Jake geben.
Ihr Büro lag in einem der Gebäude in der Nähe der Wall Street, in denen Freischaffende aller Couleur ihre Brötchen verdienten. Gleich nebenan übte ein Zahnarzt sein schmerzhaftes Gewerbe aus (Manny hasste Bohrer); um die Ecke war ein Steuerberater, dessen Mandantenkreis, wie es schien, überwiegend aus Gewerkschaftsfunktionären bestand. Am Ende des Flures war der Manager einer Girlie-Rockband untergebracht, deren Mitglieder auch abseits der Bühne offenbar eine Vorliebe für äußerst knappe Kleidung hatten. Auf der mattierten Glasscheibe von Mannys Tür stand in eleganten goldenen Lettern:
PHILOMENA MANFREDA Rechtsanwältin
Ihre Räumlichkeiten bestanden aus einem kleinen Zimmer für Kenneth und einem größeren für sie selbst, mit einem Fenster, das Aussicht auf andere Fenster bot. Wenn sie nach draußen schaute, konnte sie kaum sagen, ob es Tag oder Nacht war.
Es war, wie sie nun erkannte, Nacht, zumindest später Abend. Nach ihrem Gespräch mit Williams hatte sie noch etliche Stunden gearbeitet und kaum mitbekommen, dass Kenneth sich verabschiedet hatte und die Lampen in dem Gebäude gegenüber zwar noch brannten, aber niemand mehr da war, um das Licht zu nutzen. Sie schaute auf die Uhr. Ach du Schande! Sie wählte Jakes Handynummer.
»Ich bin noch im Büro.«
Er seufzte. »Ich auch. Ich wollte Sie gerade anrufen. Wäre es schlimm, wenn wir uns heute Abend nicht mehr treffen? Ich mach’s morgen wieder gut, versprochen.«
Ihn nicht sehen? Tja – okay. Sie war zu müde für Wortgefechte und für die Flut von Emotionen, die sie jedes Mal in seiner Gegenwart empfand. Sie sollte lieber rasch irgendwo einen Salat essen, nach Hause fahren, mit Mycroft Gassi gehen und sich die Spätnachrichten ansehen.
Sie stand auf und reckte sich, weil jeder Muskel in ihrem Rücken rebellierte, und zum ersten Mal registrierte sie die Stille im Haus. Außer mir ist wahrscheinlich kein Mensch mehr da.
Noch letzte Woche hätte ihr dieser Gedanke nichts ausgemacht, jetzt jedoch, nach ihrem Besuch in der verlassenen Klinik, löste er ein mulmiges Gefühl in der Magengegend aus, und sie schnappte sich hastig Tasche und Mantel.
Draußen auf dem Gang war jemand! Sie konnte die Silhouette durch die mattierte Scheibe in ihrer Bürotür sehen. Er stand ruhig da – nein, jetzt bückte er sich. Um durch die Scheibe zu spähen? Sie stellte sich seinen Atem im Nacken vor, fühlte ihn so beängstigend, als wäre sie wieder in dem Isolierraum. War er ihr gefolgt? Wusste er, dass
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