Skalpell Nr. 5
angegriffen wurden?«, fragte Jake.
»Eigentlich nicht. Sie hat ja bloß ›Guten Abend‹ gesagt und könnte die Stimme verstellt haben. Klar, sie trug ein Kleid, aber sie hatte Herrenstiefel an. Aus Eidechsenleder und von Tod’s. Unverkennbar.«
»Also. Es könnte auch ein Mann gewesen sein. Kenneth–«
»Er war’s nicht!«
Jake lachte. »Das wollte ich auch nicht sagen. Aber ich will rausfinden, ob es dieselbe Person war, die Ihnen in Turner solche Angst eingejagt hat. Vielleicht handelt es sich auch um zwei verschiedene Personen.«
Die tröstliche Wirkung seiner Anwesenheit ließ allmählich nach, und erneut packte sie Entsetzen über das Geschehene. Vor allem seine letzten Worte machten ihr zu schaffen. »Zwei Angreifer?«
»Zum Beispiel Sheriff Fisk und Marge Crespy.«
»Sie glauben –?«
Seine Miene verfinsterte sich. »Mein Mitarbeiter Wally Winnick ist derzeit in Baxter Country und sucht nach irgendwelchen Verbindungen. Wenn er sich meldet, wissen wir mehr. Sicher bin ich mir nur in einem: Er oder sie oder wer auch immer hatte nicht vor, Sie zu töten.«
»Dieser Mensch in Turner natürlich nicht, aber die Putzfrau schon.«
»Wenn sie gewollt hätte, wären Sie jetzt tot. Das Messer hätte genauso gut Ihr Herz treffen können statt den Oberschenkel. Die wollen Ihnen Angst machen, Manny, und mir auch.« Er schlug mit der Faust gegen den Bettrahmen. »Gott, ich wünschte, sie hätte mich angegriffen!« Ich bin schuld, dass sie verletzt ist. Ich hätte sie nicht mit reinziehen dürfen. Ich wollte sie dabeihaben. Ich brauchte sie nicht.
»Ich bin froh, dass sie’s nicht getan hat«, sagte Manny leise. Jake ließ den Kopf hängen, sie streichelte seinen Arm. »Jetzt muss ich zumindest nicht bis heute Abend warten, bis wir uns wiedersehen.«
Er versuchte zu lächeln, schaffte es aber nicht. Eine Krankenschwester kam herein. »Ms. Manfreda, draußen sind zwei Polizisten, die mit Ihnen sprechen möchten. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«
»Ich denke schon.« Sie merkte, dass die Betäubung langsam nachließ. Der Schmerz wurde schlimmer, aber ihr Kopf wieder klarer. »Wie haben denn die Cops davon erfahren?«, fragte sie Jake.
»Vom Notarzt. Alle Verletzungen, die auf eine Straftat hindeuten, müssen gemeldet werden.«
»Hindeuten? Es war eine Straftat, basta. Was soll ich denen erzählen?«
»Sagen Sie einfach, Sie hätten geschrien und die Angreiferin dadurch in die Flucht geschlagen.«
17
M anny ließ sich von Jake aus dem Taxi helfen. Sie wusste, sie hätte Kenneth anrufen oder ihre Mutter bitten können, bei ihr zu übernachten, aber Jake hatte sie zu sich nach Hause eingeladen – »Da sind Sie am sichersten« –, und sie hatte angenommen. Nichts lieber als das. Im Krankenhaus hatte man ihr die Kleidung vom Körper geschnitten, und Jake hatte sie mit geziemender Sittsamkeit auf beiden Seiten in Krankenhausnachthemden gehüllt, bevor er die Entlassungspapiere unterschrieb.
Sie empfand etwas, was sie schon lange nicht mehr empfunden hatte: Verletzlichkeit. Es tat ihr gut, umsorgt zu werden. Er bugsierte sie in einen seiner dicken Ledersessel im Wohnzimmer, legte ihre Beine hoch auf eine Ottomane, die nicht zum übrigen Mobiliar passte, und kochte Tee für sie.
»Ich hol Ihnen was anderes zum Anziehen«, sagte er.
Sie trug noch immer die Nachthemden aus dem Krankenhaus. »Haben Sie sich mit Kenneth angefreundet?«
Er sah sie an. »Hä?«
»Schon gut. Ich nehme, was Sie haben.«
Er ging nach oben.
Sie trank ihren Tee und dachte über das Wunder nach, noch am Leben zu sein. Sie hätte genauso gut getötet werden können, und – zack! – wäre sie nur noch ein leerer Körper ohne Seele gewesen, genau wie Mrs. Alessis. Dass andere Menschen ihren Tod herbeiführen konnten, war beängstigend. Kontrolle war ihre Stärke, und jetzt musste sie erfahren, wie bedeutungslos das doch war. In ihrem Beruf hatte sie überwiegend mit menschlichem Leid und Verlust zu tun; sie hatte sogar bei einer Obduktion assistiert. Doch erst jetzt, wo sie selbst so knapp dem Tod entgangen war, übermannte sie die Empörung. Ich bin ein Mensch. Wie können die es wagen? Sie wollte Rache.
Jake kam zurück. Entschädigung. »Probieren Sie den mal.« Er warf ihr einen seiner Pyjamas auf den Schoß.
»Ich hab fest damit gerechnet, dass Sie mit der Jogginghose von Ihrer Freundin ankommen.«
»Keine Freundin. Keine Jogginghose.«
Aha.
»Ich muss für ein paar Stunden noch mal ins Büro«, sagte er. »Wenn
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