Skalpell Nr. 5
einer Frau im mittleren Alter, die den Schreibtisch am Empfang mit einer Inbrunst hütete, als wäre er aus purem Gold. »Ich war Anfang letzter Woche schon mal hier, um mir die Unterlagen vom Turner Psychiatric Institute anzusehen.«
»Es tut mir leid, Ms. Manfreda, aber ohne die schriftliche Genehmigung unseres Direktors, Mr. Parklandius, darf ich niemanden in unser Archiv lassen.«
»Ich hab das beim letzten Mal bereits mit Ms. Meissen geklärt, Ma’am. Die Academy ist ein Archiv für öffentliche Dokumente und wird mit staatlichen Mitteln finanziert. Als Bürgerin habe ich von Gesetzes wegen das Recht, sie einzusehen.«
»Nicht mehr, Ms. Manfreda, und Ms. Meissen ist hier nicht mehr beschäftigt. Wir haben jetzt eine neue, von unseren Anwälten geprüfte Vorschrift, und danach müssen Patientenunterlagen, ganz gleich, wie alt sie sind, vertraulich bleiben. Ohne Erlaubnis des jeweiligen Patienten oder eine Verordnung der Datenschutzkommission in Washington dürfen sie nicht herausgegeben werden.«
»Aber diese Unterlagen sind seit Langem öffentlich.«
»Das spielt keine Rolle. Archivierte Dokumente unterliegen jetzt den neuen Datenschutzgesetzen. Als Anwältin sollten Sie das eigentlich wissen.«
»Davon hab ich noch nie gehört.« Reiß dich zusammen.
»Vielleicht kann Mr. Parklandius die Sache klären«, sagte Jake beschwichtigend. »Ist er da?«
»Leider nein.« Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Sie ging ran, hörte kurz zu und lief dann leicht rot an. »Offenbar ist Mr. Parklandius doch im Haus. Er erwartet Sie beide im Lesesaal.«
Die Fahrt in dem offenen Fahrstuhl war für Manny genauso beängstigend wie beim ersten Mal. Wieder hielt sie ihre Vuitton-Tasche wie einen Rettungsring umklammert. Die Papiere, die sie sich ausgeborgt hatte, befanden sich darin. »Ich frag mich, woher er weiß, dass wir hier sind«, sagte sie. »Und woher die wissen, dass ich Anwältin bin.«
Jake grinste. »Anwälte haben eine besondere Duftmarke, sogar du. Ich kann euch auf zehn Meter Entfernung wittern.«
Sie boxte ihn in die Rippen. »Erzähl du mir nichts von Gerüchen. Was meinst du, warum Parklandius seine Meinung geändert hat?«
»Weil er herausgefunden hat, dass du eine von den guten Anwälten bist?«
»Oder weil er weiß, was du mit seiner Leiche anstellen wirst, falls ich ihn umbringe.«
Sie gingen an der geschlossenen Tür von Mr. Parklandius’ Büro vorbei und betraten den Lesesaal. Er war leer, doch dieselben Akten, die Manny bei ihrem ersten Besuch durchgesehen hatte, waren auf dem Tisch verteilt. Jake schlug den Ordner für das Jahr 1964 auf und blätterte ihn durch. »Hier ist das Foto von dem Picknick«, sagte er und verglich es mit dem Bild, das Pete ihm hinterlassen hatte, »aber hier fehlt ein Stück. Pete und die Frau sind nicht mehr drauf.«
»Seltsam«, sagte Manny. »Irgendwer muss gewusst haben, dass Harrigan das Original mitgenommen hat, und hat es durch dieses gestutzte Bild hier ersetzt. Ein Jammer, dass der Fotograf nicht angegeben ist. Dann hätten wir vielleicht einen Augenzeugen auftreiben können.«
Ein großer schlaksiger Mann mit grau meliertem Haar und gelb getönten Brillengläsern kam flotten Schrittes in den Raum. »Ms. Manfreda, Dr. Rosen, nett, dass Sie uns besuchen.« Er bot ihnen nicht die Hand an. »Ich bin Charles Parklandius.«
»Woher wissen Sie meinen Namen?«, fragte Jake.
»Sie waren gestern auf der Titelseite. Sie sehen, Ihr Ruhm eilt Ihnen sogar bis Poughkeepsie voraus.« Sein Verhalten verströmte nichts Freundliches. »Was Sie betrifft, Ms. Manfreda, der Stiftungsrat hat mir gestern Abend die Erlaubnis erteilt, mich an die Polizei zu wenden und sie zu bitten, einen Haftbefehl gegen Sie zu beantragen.«
Sie starrte ihn an. Er wich ihrem Blick aus. »Haftbefehl? Weswegen denn?«
»Diebstahl. Aus unseren Akten ist ein Bild entwendet worden. Ein Foto aus der Baxter County Daily Gazette. Dafür ist ein anderes eingefügt worden, aber an dem fehlt ein Stück. Ich will das Original wiederhaben.«
Jake hielt ihm das Bild hin. »Ms. Manfreda hat es nicht mitgenommen«, sagte er. »Das Foto wurde bei den Dingen gefunden, die im Besitz von Dr. Peter Harrigan waren, dem früheren Chef der New Yorker Rechtsmedizin, der vor zwei Wochen in seinem Haus in Turner verstorben ist. Wir wollten es Ihnen zurückbringen.«
»Ich gebe zu, dass ich beim letzten Mal einen Bauplan mitgenommen habe«, sagte Manny und öffnete ihre Tasche. »Das war ein Versehen,
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