Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
zu begraben. Wann war sie nur so feige geworden?
Mary blieb stehen. Sie hatte Feigheit immer verachtet. Konnte nicht verstehen, warum jemand feige war, und konnte es nicht nachempfinden. Und doch drückte sie sich jetzt um das eigentliche Problem. Ein Mann namens Lang Jin Hai saß im Gefängnis – alt und krank, wie er war. Höchstwahrscheinlich wurde er von den Wachen beschimpft oder misshandelt, während er auf sein Todesurteil wartete – und sie hatte nichts weiter unternommen, als ihm einen Brief zu schreiben. Was für einen törichten, sinnlosen Weg hatte sie gewählt – in der Hoffnung, dass er nicht antworten würde, in der Hoffnung, dass sie ihr Gewissen beruhigen konnte, indem sie sich sagte, dass sie es versucht hatte. Wenn sie sich theoretisch mit dem Problem befasste – mit der Ungerechtigkeit, dass ein Mann fälschlicherweise angeklagt wurde –, kochte die Wut in ihr hoch. Und doch ließ sie das Schamgefühl, mit solch einem Mann verwandt zu sein – einem Mörder, einem Opiumsüchtigen –, zurückschrecken. Sie verschwendete ihre Zeit, indem sie im Palast herumschlich und hoffte, dass Prinz Bertie vielleicht etwas einfiel, das seine Mutter dazu bewog, Milde gegenüber diesem ausländischen Verbrecher zu zeigen. Und selbst wenn – was äußerst unwahrscheinlich war –, würde ein solcher Erfolg ihr wahres Problem auch nicht lösen. Was immer mit Lang Jin Hai passierte, sie würde sich persönlich nicht so mit ihm auseinandersetzen, wie sie es sollte. Wie sie es brauchte.
Sie musste Lang Jin Hai gegenübertreten. Sie musste sich irgendwie Zutritt zu seiner Zelle verschaffenund mit ihm reden. Nur wenn sie ihn sah, konnte sie mit Sicherheit sagen, ob er ihr Vater war oder ob es sich um einen grotesken Zufall handelte. Sie hatte keine Ahnung, welche Möglichkeit ihr lieber war.
Zehn
F rierend, in Gedanken vertieft und grübelnd kam sie wieder im Palast an – drei Gründe, warum sie fast mit einer Gestalt zusammenstieß, die den Dienstbotengang entlangschlich. Nur ihre gründliche Ausbildung rettete Mary. Sie huschte hinter einen Türpfosten, ehe sie recht wusste, warum. Denn es handelte sich nicht um eine gewöhnliche, neugierig herumschleichende Person. Nicht um einen Diener, der einem verdächtigen Geräusch nachging. Kein anderes Dienstmädchen auf einem unerlaubten Spaziergang. Die hochgewachsene Figur war rasch zu identifizieren. Die Kerze, die sie in der Hand hielt, erleuchtete ihre elegante Haltung. Es war, wer hätte das gedacht, Honoria Dalrymple.
Mary gab ihr einen kleinen Vorsprung, dann folgte sie ihr geräuschlos. Die Hofdame hatte im Dienstbotenbereich nichts zu suchen. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass sie einen Becher heißer Milch vor dem Zubettgehen wollte, musste sie nur nach ihrem Mädchen läuten. Aber sie war hier und schlichvorsichtig an den Vorratsräumen des Butlers vorbei, bis sie an eine Tür kam. Sie blieb stehen, als müsse sie Mut fassen. Dann öffnete sie die schwere Tür und stieg hinunter in den unterirdischen Küchenbereich.
Mary rieb sich die Augen. Es war fast zu perfekt, um wahr zu sein; als habe ihr gemartertes Hirn eine so aufregende Erscheinung hervorgebracht, dass sie Lang Jin Hai völlig vergaß. Sie blieb stehen und hörte das leise
Klapp, klapp
von Honorias Schuhen auf den unebenen Steinstufen. Honoria hatte die Tür einen Spalt offen gelassen, als habe sie nicht vor, lange zu bleiben. Sollte sie oder sollte sie nicht? Mary brauchte nicht lang zu überlegen. Nichts auf der Welt hätte sie davon abhalten können, Honoria Dalrymple in die Eingeweide des Palastes zu folgen.
Sie wartete noch ein paar Sekunden, dann spähte sie die Treppe hinunter. Grinste erfreut. Und stieg nach unten. Der Steinboden war glatt gewetzt hier im Herzen des ursprünglichen Buckingham House. Das Gebäude war über Generationen ständig renoviert worden, erst kürzlich wieder, um Kinderzimmer für die junge Familie Ihrer Majestät zu schaffen, doch der Küchentrakt war unverändert. Was im Grunde eine Schande war – hier war es feucht und verraucht, viel zu klein für das viele Personal und, wie Mary vermutete, ein wahres Inferno in den wärmeren Monaten. Jetzt jedoch war es hier gemütlich warm, und die Glut von den erlöschenden Feuerstellen spendete gerade genug Licht, um Honorias Weg über die abfallenden Steinfliesen zu verfolgen.
Honorias Absatz scharrte laut über eine Unebenheit. Sie sah zu Boden und schnaubte abfällig. Trotz
Weitere Kostenlose Bücher