Skandal um Lady Amelie
„Nein, um meinen Bruder – seinen plötzlichen Aufbruch nach London.“
„Ah ja. Hin und wieder agiert er mit erstaunlicher Eile, nicht wahr? Ich hoffe, er konnte noch frühstücken.“
Er bemerkte den Sarkasmus, fuhr jedoch unbeirrt fort, wobei sein Blick den Konturen ihres Gesichts und ihres anmutigen, von dunklen Locken umschmeichelten Halses folgte. „Nein, er kleidete sich nur rasch um. Nun …“, er lächelte, „… er konnte schlecht in Abendkleidung nach London fahren, nicht wahr? Aber nach allem, was man hört, verblüffte er doch einige Leute, als er auf Ihrem Grauschimmel durch Richmond ritt. Nick meinte, Sie würden es ihm nicht übel nehmen, dass er ihn sich ausborgte.“
„Nein, sicher nicht. Aber warum diese überstürzte Abreise? Gab es einen Notfall? Etwas mit Ihren Eltern?“
„Nein, das nicht. Doch es hat sich in der Tat eine dringende Angelegenheit ergeben. Er lässt Ihnen ausrichten, dass er hofft, es bereite Ihnen keine Ungelegenheiten, und er bat mich, für ihn einzuspringen. Natürlich werde ich Ihnen jederzeit als Begleitung zur Verfügung stehen, wenn Sie es wünschen. Noch weiß er nicht, wie lange er wird fortbleiben müssen, doch bis dahin werde ich nur allzu gern Ihnen und Miss Chester jederzeit zu Diensten sein.“
Keineswegs besänftigt von dieser vagen Entschuldigung, neigte Amelie nicht dazu, Lord Setons Angebot, so freundlich es auch gemeint war, anzunehmen, nur um sein Gewissen zu beschwichtigen. Ha, weiß nicht, wie lange er fort sein wird! Dringende Angelegenheit! Dummes Zeug!
„Sie sind sehr freundlich“, sagte sie in merklich kühlem Ton, wie Lord Seton ihn schon einmal von ihr gehört hatte, „und wir sind Ihnen sehr dankbar. Sie beide haben für zwei völlig Fremde schon viel mehr getan, als wir je erwartet oder verdient hätten. Caterina hat inzwischen einen sehr guten Eindruck gemacht, wofür sie Ihnen und Lord Elyot danken muss, von daher dürfen wir nicht noch mehr Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen. Wie ungemein freundlich und nachsichtig Sie uns Geleit gaben! Es muss Ihre eigenen Pläne zeitweise betrüblich beeinträchtigt haben.“
Amelies frostiger Ton blieb nicht unbemerkt, und Lord Seton dachte, dass es hier wohl galt, gesträubtes Gefieder zu glätten. Hinter ihrem frostigen Blick schimmerte Schmerz, sodass er vermutete, sein Bruder, sonst ein so hervorragender Frauenkenner, müsse in der Behandlung dieser sensiblen Dame einen gravierenden Fehler gemacht haben. Er selbst wagte nicht einzuschätzen, was daraus entstehen könnte. „Mylady“, sagte er sanft, „es geschah nicht aus reiner Güte, sondern aus Selbstsucht. Glauben Sie mir, nie genossen mein Bruder und ich erfreulichere, angenehmere Gesellschaft als während des letzten Monats. Aber Nick darf nicht immer sagen, welche Geschäfte ihn nach London führen, da er königlichen Befehlen untersteht. Selbst ich weiß nicht, weshalb mein Vater ihn braucht. Ich weiß nur, dass meine Eltern mit ihm heimkehren werden und dass er sich darauf freut, Sie ihnen vorzustellen zu dürfen.“
Natürlich hatte er erwartet, die Ankündigung werde sie sehr interessieren; als er jedoch sah, dass ein Schatten über ihr Gesicht huschte, konnte er nicht anders und musste fragen: „Die Aussicht erfreut Sie nicht, Mylady?“
„Oh, ja, doch … doch … sicher ein Grund zur Freude, weil … äh … ich habe schon so viel über Ihre Eltern gehört.“
„Und in eben diesem Augenblick werden sie noch mehr über Sie erzählt bekommen werden, nehme ich an. Und über Miss Chester. Die gerade Gesangsstunde hat, glaube ich?“
„Ja. Hofften Sie, mit ihr ausfahren zu können?“
Wieder bewunderte er ihre anmutige Haltung, die reizvolle Neigung ihres Kopfes, als sie auf ihre nervös verschlungenen Finger niederschaute. „Eigentlich kam ich nur, um Ihnen die Botschaft meines Bruders zu übermitteln und Ihnen meine Dienste anzubieten. In Form einer Besorgung vielleicht?“, fragte er scherzhaft. Dann sah er auf dem Arbeitstisch am Fenster einen Stapel Bilder auf einem Bogen braunen Papiers liegen. „Wer rahmt Ihre Bilder?“, fragte er. „Etwa Mr. Pallisy hier in Richmond?“
„Ja, er arbeitet sehr gut. Die dort soll er noch bekommen.“ Mit dem Kopf deutete sie auf eben den Stapel, in Gedanken bei dem Wunsch, dass statt dieses charmanten jungen Mannes Lord Elyot selbst hier säße und dass sie nicht von der baldigen Ankunft seiner Eltern erfahren hätte.
„Dann werde ich sie auf dem Heimweg bei ihm
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