Skeleton Key: Alex Riders Dritter Fall
n –, aber seither hatte sich das Wetter aufgehellt und dieser Abend war plötzlich ein richtiger Sommerabend geworden. Sabina hatte ein Bad genommen; ihr Haar war noch feucht. Der Bademantel reichte fast bis zu ihren nackten Füßen. Alex dachte, dass sie viel älter als fünfzehn aussah.
»Ich hab dir eine Cola mitgebracht«, sagte sie.
»Danke.«
Die Veranda war sehr breit, mit niedrigem Geländer, einer Hollywoodschaukel und einem Tisch. Sabina stellte die Gläser ab und setzte sich. Alex nahm neben ihr Platz. Der Holzrahmen knarrte, als sie gemeinsam die Schaukel in Bewegung setzten und auf das Meer hinausblickten. Lange Zeit schwiegen beide. Dann brach Sabina plötzlich das Schweigen.
»Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?«, fragte sie.
»Was meinst du damit?«
»Ich hab gerade an Wimbledon gedacht. Ich meine, warum bist du direkt nach dem Viertelfinale verschwunden? Im einen Moment warst du noch da. Auf dem Number One! Und im nächsten Momen t …«
»Ich hab’s dir doch schon erzählt«, fuhr Alex unwirsch dazwischen. »Ich fühlte mich nicht wohl.«
»Ich hab was ganz anderes gehört. Man hat sich erzählt, dass du in irgendeine Schlägerei geraten bist. Und mir ist noch was anderes aufgefallen. Ich hab dich in der Badehose gesehen. Ich hab noch nie jemanden mit so vielen Schnittwunden und Blutergüssen gesehen.«
»In der Schule werde ich dauernd schikaniert.«
»Glaub ich dir nicht. Ich hab eine Freundin, die an deine Schule geht. Sie hat gesagt, dass du fast nie da bist. Immer verschwindest du. Zweimal schon in diesem Schuljahr. Und kaum warst du zurück, ging die Schule in Flammen auf.«
Alex beugte sich vor, griff nach der Cola und rollte das kalte Glas zwischen den Händen. Hoch über ihnen zog ein Flugzeug durch den Nachthimmel, ein winziger blinkender Lichtpunkt in der unendlichen Dunkelheit.
»Also gut, Sab«, sagte er. »Ich bin eigentlich kein Schuljunge. Ich bin ein Spion, James Bond junior. Null-Null-Nix haben sie mich mal genannt. Ab und zu lass ich mich vom Unterricht freistellen, damit ich die Welt retten kann. Hab ich schon zweimal gemacht. Beim ersten Mal war es hier in Cornwall. Beim zweiten Mal in Frankreich. Was willst du sonst noch wissen?«
Sabina lachte laut. »Also gut, Alex, blöde Frage, super Antwor t …« Sie zog die Beine hoch und kuschelte sich tiefer in ihren Frotteemantel. »Trotzdem: Irgendwas stimmt nicht mit dir. Du bist ganz anders als all die anderen Jungen, die ich kenne.«
»Kinder?«, rief Sabinas Mutter aus der Küche. »Wäre es nicht langsam Zeit fürs Bett?«
Es war zehn Uhr abends. Und die beiden wollten um fünf Uhr morgens aufstehen, um die besten Surfwellen zu erwischen.
»Nur noch fünf Minuten!«, rief Sabina zurück.
»In Ordnung. Aber die Stoppuhr läuft.«
Sabina seufzte. »Mütter!«
A ber Alex hatte nie eine Mutter gekannt.
Als er zwanzig Minuten später ins Bett ging, dachte er über Sabina Pleasure und ihre Eltern nach. Der Vater sah ein wenig wie ein Bücherwurm aus, mit langem grauem Haar und einer Brille; die Mutter war rundlich und fröhlich, und zumindest in puncto Heiterkeit ähnelte Sabina eher ihr als dem Vater. Weitere Kinder gab es nicht; vielleicht kamen die drei deshalb so gut miteinander aus. Die Familie wohnte im Westen Londons und mietete das Haus in Cornwall jeden Sommer für vier Wochen.
Er schaltete das Licht aus und lag still in der Dunkelheit. Sein Zimmer befand sich im Dachgeschoss und hatte nur ein kleines Fenster, durch das er jetzt den Mond sehen konnte, eine weiß leuchtende Scheibe, die so vollkommen rund war wie ein Penny. Die Pleasures hatten ihn von Anfang an wie einen guten Freund aufgenommen. Jede Familie hat ihre eigene Routine, und Alex war selbst überrascht, wie schnell er sich an die Routine von Sabinas Familie gewöhnt hatt e – die langen Spaziergänge über die Klippen, das Einkaufen und das Kochen, oder einfach nur still beisammenzusitzen, zu lesen oder auf das Meer hinauszuschauen.
Warum konnte er nicht so eine Familie haben? Wieder einma l – wie schon so of t – spürte Alex die alte Trauer in sich aufsteigen. Seine Eltern waren ums Leben gekommen, als er erst ein paar Wochen alt war. Der Onkel, der ihn bei sich aufgenommen und aufgezogen und ihm so viel beigebracht hatte, war ihm in vieler Hinsicht fremd geblieben. Alex hatte keine Geschwister. Manchmal fühlte er sich so einsam, so fern von der Welt wie das Flugzeug, das er von der Veranda aus beobachtet hatte und das einsam
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