Skelett
Waffen in England zurücklassen müssen, und so kam es, dass sowohl die Browning in Paulas Umhängetasche als auch die in einem kleinen Halfter an ihrer rechten Wade befestigte Beretta nagelneu waren.
»Was diesen falschen Kontrolleur angeht …«, sagte Tweed.
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wer das sein könnte?«
»Das war ein angeheuerter Killer, würde ich mal sagen. Die haben sich bestimmt in Paris den richtigen Zugbegleiter geschnappt und dann umgebracht, um an die Tasche und die Uniform zu kommen. Ich habe eigentlich mit so einem Zwischenfall gerechnet.«
»Und warum?«, fragte Paula.
»Weil uns von der Park Crescent bis zur Waterloo Station ein Motorradfahrer gefolgt ist«, erklärte Marler mit ernster Miene. »Übrigens: Marin hat mir gesagt, dass wir kurz vor der Ankunft in Marseille in einen Zweite-Klasse-Wagen umsteigen sollen.«
»Wozu denn das?«, fragte Paula.
»Auf diese Weise können wir uns beim Aussteigen unauffällig unter die anderen Passagiere mischen. Vor dem Bahnhof warten zwei gelbe Citroën-Taxis auf uns. Sie, Tweed, nehmen mit Paula das erste. Setzen Sie sich auf die Rückbank. Das zweite ist für Pete, Harry und mich bestimmt. Die Wagen sind übrigens mit kugelsicheren Scheiben und verstärkten Stoßstangen ausgestattet, falls wir auf der Fahrt ins Hotel Ärger bekommen.«
Mit diesen Worten verließ Marler das Abteil. Nield und Butler folgten ihm und nahmen wieder ihre Plätze draußen im Gang ein.
Wie schön und friedlich es da draußen ist, dachte Paula, während sie sanft gewellte Weinberge an sich vorüberbrausen sah. Die an Drähten hochgebundenen Rebstöcke hatten unter den wärmenden Strahlen der Sonne bereits die ersten zarten Triebe entwickelt.
Paula ließ ihre Gedanken schweifen. Wieso hatte Tweed von den infernalisch lauten Kirchenglocken im Dartmoor geträumt? Und vom Pfarrer des Ortes, der mit einem Messer auf ihn losgegangen war. Ihr selbst war Reverend Stenhouse Darkfield auf den ersten Blick schon unsympathisch gewesen. Paula sah zu Tweed hinüber, der ein Nickerchen zu machen schien. Der TGV wurde merklich langsamer.
Zu beiden Seiten der Bahnstrecke tauchten weiß getünchte Häuser und Fabrikgebäude auf. Alles wirkte vernachlässigt und heruntergekommen wie in so vielen Außenbezirken einer Großstadt. Als Marler zurück ins Abteil kam, wurde Tweed wieder wach.
»Zeit, den Waggon zu wechseln«, sagte Marler. »Nehmen Sie Ihr Gepäck, und folgen Sie mir in aller Ruhe. Sie müssen sich nicht beeilen.«
Gerade als das ganze Team sich im Wagen nebenan versammelt hatte, fuhr der Zug in den Bahnhof ein.
»So, da wären wir also«, sagte Tweed. »Wir sind in Marseille, Europas Hort des Verbrechens.«
Bis der Hochgeschwindigkeitszug vollständig zum Stillstand kam, streckte Paula ihre Beine, die vom langen Sitzen ziemlich steif geworden waren. Die Türen öffneten sich automatisch, und die ersten Passagiere stiegen aus - eine bunte Mischung aus Geschäftsleuten und ärmlich gekleideten Frauen, von denen viele Kopftücher trugen. Im Gegensatz zur geschäftigen Atmosphäre in Paris lag hier ein Hauch von Gewalt in der Luft.
Tweed und sein Team gingen den Bahnsteig entlang, an dessen Ende Marler eine Doppeltür öffnete. Dahinter stand ein uniformierter Bahnbeamter, der ihnen auf Französisch erklärte, dass dies hier kein öffentlicher Durchgang sei. »Das ist die Gepäckaufbewahrung.«
»Es handelt sich hier um einen Polizeieinsatz«, antwortete Marler auf Französisch. »Lassen Sie uns durch, oder Sie bekommen Ärger.«
Paulas Französisch war gut genug, um jedes Wort zu verstehen. Der Beamte öffnete verblüfft den Mund, schloss ihn aber gleich wieder und ließ sie durch. Marlers Anpfiff schien den Mann gebührend eingeschüchtert zu haben. Als sie auf der anderen Seite der Gepäckaufbewahrung das Bahnhofsgebäude verließen, entdeckte Paula sofort die auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkten gelben Citroën-Taxis. Der arabisch aussehende Fahrer des ersten Wagens winkte ihr zu, als wollte er, dass sie sich beeilte.
»Ist das auch der richtige Wagen?«, flüsterte sie Marler zu, während sie mit ihrem kleinen Koffer in der Hand hinaus in den gleißenden Sonnenschein trat.
»Ja, steigen Sie schnell hinten ein«, antwortete Marler, der außer seiner Golftasche einen merkwürdig aussehenden flachen Handkoffer bei sich hatte.
Beim Einsteigen fiel Paulas Blick auf die verstärkten Stoßstangen des Wagens. Die Luft in dem Taxi war heiß und stickig.
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