Skelett
halte.«
»Na gut. Dann will ich Ihnen mal was erzählen. Gestern Abend war hier noch weniger los als heute. Wir Mädchen haben uns total gelangweilt, als plötzlich so ein Typ in einer schwarzen Motorradkluft reinschaut, sich kurz umsieht und gleich wieder rauswill. Ich gehe auf ihn zu und quatsche ihn an, ob er nicht Lust hat, mir ein Glas Champagner zu spendieren. ›Du und Champagner?‹, hat der Schnösel mit so einem arroganten Franzmannakzent zu mir gesagt. ›Eine wie du ist ja nicht mal ein Glas Wasser wert.‹ Darüber habe ich mich so geärgert, dass ich dem Mistkerl heimlich hinterhergeschlichen bin. Je mehr man über einen weiß, umso eher kann man ihm schaden. Er ist schnurstracks zur Pension von Mrs Hogg gegangen. Das ist ein übles Nepploch, sündhaft teuer, aber total heruntergekommen. Ich selber war noch nie drin, aber man hört ja so einiges. Wenn Sie mir die Kohle geben, schreibe ich Ihnen die Adresse auf.«
Als Charmian auf seiner schweren Harley-Davidson über die nächtliche Schnellstraße zurück nach London raste, war er sehr unzufrieden mit sich. Noch nie zuvor hatte er einen Auftrag so vermasselt wie diesen. Drei vergebliche Versuche, seine Zielperson zu töten, hatte es in seiner Karriere noch nie gegeben.
Erst als Charmian den Stadtrand von London erreichte, drosselte er die Geschwindigkeit - schließlich wollte er nicht von einer Polizeistreife aufgehalten werden.
Nur nicht auffallen, war seine Devise. Nicht auffallen, und alle Spuren so schnell wie möglich verwischen. Mit der ihm eigenen Umsicht hatte er sich des Gewehrs, mit dem er beim ersten Mordanschlag auf Tweed geschossen hatte, ebenso entledigt wie der gummiummantelten Leiter, mit deren Hilfe er über den Zaun der Gantia-Anlage geklettert war. Wie auch die Waffe, mit der er Tweed und Paula gerade im Ivy Cottage beschossen hatte, lagen sie längst auf dem Grund verschiedener abgelegener Seen, wo sie so schnell niemand finden würde.
Charmian war ein Vollprofi, der sein Handwerk wie kein Zweiter in seiner Branche verstand. Jetzt, wo er sich einer der finstersten Gegenden Sohos näherte, fuhr er besonders langsam. Er stellte die Harley schließlich mehrere Straßen weit von der unscheinbaren Pension, in der er sich für drei Tage einquartiert hatte, in einem zuvor ausgekundschafteten Hinterhof ab. Dort zog er sich die Lederkombi aus und steckte sie zusammen mit dem Helm in eine eigens zu diesem Zweck mitgebrachte Einkaufstasche. Dann ging er in dem unauffälligen dunkelblauen Straßenanzug, den er unter der Motorradkluft angehabt hatte, durch die düsteren, von ein paar schwachen Laternen nur unzulänglich erleuchteten Straßen.
In seiner Pension angekommen, schlich er sich an der am Empfangstresen eingeschlafenen Mrs Hogg vorbei die Treppe hinauf. Sein Zimmer hatte er mit Bedacht so gewählt, dass sich direkt unter dem Fenster eine Feuerleiter befand. Charmian hielt sich immer einen zusätzlichen Fluchtweg frei.
Erschöpft von seinem langen Tag, warf er sich angezogen aufs Bett und schlief ein, ohne vorher das Licht gelöscht zu haben.
Von dem Mann, der Mrs Diana Hogg eine Viertelstunde später unsanft aus dem Schlaf riss, hätte selbst jemand, der ihn gut kannte, kaum sagen können, dass es sich um Marler handelte - Tweeds Mitarbeiter hatte sich mittels einer großen, eckigen Brille und einer Schirmmütze, unter der sein Haar vollständig verschwand, bis zur Unkenntlichkeit verkleidet.
»Special Branch«, raunzte er die vor sich hin dösende Pensionsinhaberin an, und nachdem sie sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte, fragte er sie: »Haben Sie hier einen Gast, der Englisch mit französischem Akzent spricht?«
»Das geht Sie einen feuchten Kehricht an«, brummte die Frau verärgert.
»Haben Sie mir nicht richtig zugehört, als ich Special Branch sagte?«, erwiderte Marler mit einem maliziösen Grinsen. »Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich Ihnen einen Trupp von meinen Jungs auf den Hals hetze, der Ihre Bude mal gründlich auseinander nimmt?«
»Ja … doch … ich habe einen solchen Gast«, stammelte Mrs Hogg. »Er wohnt auf Zimmer zehn. Das Eckzimmer mit der Feuerleiter.«
»Dann werde ich dem Herrn mal einen kleinen Besuch abstatten. Aber unterstehen Sie sich, ihn anzurufen. Das würden Sie bereuen, glauben Sie mir.«
Die alte Holztreppe knarrte nur sehr leise, als Marler sie vorsichtig am äußeren Rand der Stufen hinaufstieg. Oben angekommen, schlich er sich auf den Zehenspitzen nach links und
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