Skin Deep - Nichts geht tiefer als die erste Liebe (German Edition)
hertrottete. Er hatte den Gesichtsausdruck eines Beschützers. Charlie war wirklich unberechenbar. Er redete nicht viel – außer über Fußball –, und die meiste Zeit war er ein unausstehlicher, unfallgefährdeter kleiner Satansbraten. Doch es gab auch andere Momente – zum Beispiel, als ich im Krankenhaus war und er mir einen Topf mit Hyazinthen mitbrachte, den er von seinem Taschengeld gekauft hatte. Ich dachte, es sei Mums Idee gewesen, aber sie war genauso überrascht wie ich.
Als wir uns der Brücke näherten, wurde ich langsamer. Blau-weißes Absperrband war quer über die Straße gespannt und blockierte den Zugang. Hinter dem Absperrband parkte ein Polizeiwagen. Ein Mann in Uniform stand auf der Straße, er beobachtete, wie wir näher kamen, ging aber nicht auf uns zu. Markierungen auf dem Asphalt zeigten an, wo die Leiche gelegen hatte. Jetzt fühlte sich das, was passiert war, real an. Ich schauderte. Ich hatte Steven Carlisle so lange gehasst, doch nun … wo ich mir vorstellte, wie sein Körper hier lag … löste sich der Hass langsam auf und verschwand. Er hinterließ eine Lücke, einen leeren Raum, wo zuvor all diese Gefühle gewesen waren.
Wie konnte es bloß so weit kommen? Hier war immer alles so entspannt und friedlich gewesen – und dann diese eine Nacht, ein blöder Fehler, und bis heute mussten wir alle dafür bezahlen. Nicht nur ich, wir alle – und unsere Familien. Ich schauderte noch heftiger und fing an zu zittern.
Charlie zog mich am Arm. »Komm schon, Jen. Gehen wir nach Hause.«
Ich ließ meinen Blick noch einen Moment auf der Stelle verweilen und merkte, dass es einem Teil von mir leidtat, dass Steven tot war. Vielleicht hatte einem Teil von ihm auch all das leidgetan, was passiert war. Vielleicht hatte es ihm um Lindsay leidgetan und er konnte es nur nicht zeigen. So wie ich Fremden nicht zeigen konnte, wie sehr es mich verletzte, wenn sie mich anstarrten. Und Ryan nicht zeigen konnte, wie sehr er es manchmal hasste, der Erwachsene in der Beziehung zu seiner Mum zu sein. Vielleicht war Steven gar nicht so anders als wir. Vielleicht hatte er einfach seine Gefühle verborgen. Schon seltsam, wie viel einfacher es war, das zu erkennen, jetzt, wo er tot war.
Als wir beim Haus ankamen, stand Dads Auto in der Auffahrt. Ich runzelte die Stirn – warum war er schon so früh zu Hause?
Ich schloss die Haustür auf, doch von ihm und Mum war nichts zu sehen. Charlie polterte hinter mir in den Flur und ließ seine Fußballklamotten, seinen Trompetenkoffer und die Schultasche auf den Boden fallen.
Die Tür zum Arbeitszimmer war geschlossen. Er ging hin und wollte die Türklinke herunterdrücken, doch ich packte ihn am Handgelenk und zog ihn zurück.
»Aua! Dumme Kuh!«, quiekte Charlie und rieb sich den Arm. Er funkelte mich wütend an – irgendwie fühlte er sich wohl betrogen, weil er mir eben an der Brücke beigestanden hatte.
Mum öffnete die Tür. Sie wollte etwas sagen, hielt jedoch inne und blickte Charlie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er trat einen Schritt zurück.
»Wie hast du deine Schwester gerade genannt?«
»Sie hat mir wehgetan.«
»In diesem Haus wird so nicht gesprochen, junger Mann. Trag deine Sachen hoch in dein Zimmer und mach Hausaufgaben.«
Charlie starrte sie an, selbst er sah die Sorgenfalten in ihrem Gesicht und die roten Ränder um ihre Augen. Auf ihrer Wange waren Kleckse von Wimperntusche. Mum hatte sie nicht richtig weggewischt.
Mein Bruder hob sein Zeug auf und ging mit schleppenden Schritten nach oben.
Ich wartete, bis er weg war.
»Mum?«
»Dad ist von der Arbeit aus auf die Polizeiwache bestellt worden. Sie brauchten eine DNA-Probe von ihm und haben seine Aussage offiziell zu Protokoll genommen. Er ist gerade nach Hause gekommen.« Aus jedem ihrer Worte hörte man ihre Erschöpfung.
»Geht es ihm gut?«
»Er … er wird schon wieder. Er ist da drin. Er muss einfach eine Weile allein sein. Hast du Hausaufgaben auf?«
»Ja.«
»Dann geh und erledige sie, sei ein liebes Mädchen. Ich … ich rufe dich, wenn das Abendessen fertig ist.«
Sie drehte sich um, ging zurück ins Arbeitszimmer und machte mir die Tür vor der Nase zu.
Einen Moment später hörte ich sie weinen.
36_Ryan
Ich brauchte all meine Überredungskunst, um Jenna zu überzeugen, mit mir zur Bonfire-Nacht in Whitmere zu kommen. Sie fand, sie sollte nicht ausgehen, um sich Explosionen anzugucken, wenn ihr zu Hause alles um die Ohren flog. Am Ende konnte ich sie überreden,
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