Sklaven der Begierde
weiteten sich.
„Du hast in diesem Moment keine Angst vor mir.“ Es war eine Feststellung, keine Frage, doch Kingsley antwortete auf das unausgesprochene „Warum“, das er ganz deutlich vernommen hatte.
„Du könntest mir in diesem Moment nichts antun, was ich nicht wollen würde.“
Stearns betrachtete ihn von oben bis unten, so als sei ihm gerade klar geworden, dass unter ihm kein Mensch lag, sondern ein Außerirdischer.
„Was bist du?“
Es war dieselbe Frage, die Kingsley ihm gestellt hatte, aber die Antwort war erheblich schlichter.
„Ich bin Franzose.“
Stearns atmete stoßweise ein und aus. Dann schloss er die Augen, drückte Kingsley noch einen Millimeter tiefer ins Bett und gab seine Handgelenke endlich frei.
Kingsley richtete sich mühsam auf und sah Stearns auf die Tür zugehen.
„Hast du an deiner alten Schule wirklich einen Jungen umgebracht?“, rief er ihm hinterher, im verzweifelten Versuch, irgendetwas zu tun oder zu sagen, das den anderen zum Bleiben bewegen würde.
„Ja.“ Stearns blieb in der Tür stehen.
„Was hat er dir getan?“ Kingsley machte einen Schritt auf ihn zu. Der Blick, den Stearns ihm zuwarf, ließ ihn jedoch innehalten.
„Er hat mich geküsst.“
NORDEN
DIE GEGENWART
Während der Fahrt zum Flughafen konnte Kingsley den Blick nicht von Søren abwenden. Nach dem, was sie in Elizabeths Haus vorgefunden und worüber sie geredet hatten, und vor allem nach dem, was er dabei in Sørens Augen hatte lesen können, brachte er es einfach nicht fertig, irgendwo anders hinzuschauen als auf seinen engsten Freund, seinen liebsten Feind. Mit was für einem Wahnsinn hatten sie es hier zu tun? Was passierte gerade mit ihnen? Im Laufe von dreißig Jahren hatte Kingsley schon viele Dinge in Sørens Augen lesen können. Wut, Lust, Bedürftigkeit, Hunger, Frömmigkeit, sogar gelegentliche Anflüge von Liebe. Aber nie zuvor hatte er dort Angst gesehen, echte, nackte Angst – so wie vorhin in Elizabeths Haus, als Søren im Türrahmen seines alten Kinderzimmers stand und auf die Asche des Bettes schaute, in dem er mit seiner Schwester geschlafen hatte.
„Hör auf, mich anzustarren.“ Søren drehte sich vom Fenster weg und wandte sich Kingsley zu.
„Ich starre dich seit dreißig Jahren an, mon ami . So langsam solltest du dich daran gewöhnt haben.“
Søren stieß ein leises Lachen aus. Kingsley bekam es mit der Angst zu tun. Ah ja, das war schon besser …
„Ja, vermutlich sollte ich das. Du musst nicht mitkommen, Kingsley. Es kann gut sein, dass dieser Ausflug völlig sinnlos ist. Und ich weiß ja, dass du nicht die besten Erinnerungen an St. Ignatius hast.“
Das stimmte zwar einerseits, war aber andererseits komplett falsch. Kingsley atmete langsam aus.
„Vor Marie-Laure …“, begann er dann, musste aber erst trocken schlucken, bevor er fortfahren konnte. Es gab kein quälenderes Gesprächsthema für ihn als seine Schwester. „Bevor sie kam, war alles perfekt. An diese Zeit in St. Ignatius habe ich die schönsten Erinnerungen. Wenn du mir das nur glauben würdest …“
„Ich glaube dir ja.“ Søren seufzte. „Ich wünschte nur, es wäre nicht so.“
Kingsley legte den Kopf schräg. Damals hatte er bei Søren immer nur mit Dreistigkeit punkten können. So wie an jenem Tag im Schlafsaal, als er ihn geküsst hatte. Vielleicht würde Dreistigkeit auch heute funktionieren.
„Stört es dich, dass ich immer noch in dich verliebt bin?“
„Kingsley, muss das denn jetzt sein?“ Søren schlug seine Beine übereinander.
„Aber ich bin es – ich bin, der ich bin.“ Die Worte des Herrn an Mose. Es ging doch nichts über eine gepflegte biblische Anspielung, immerhin hatte er es mit einem Mann Gottes zu tun.
„Blasphemie bringt dich auch nicht weiter.“
„Ich habe den Versuch, bei dir weiterzukommen, längst aufgegeben. Mais … c’est vrai.“
„Das ist dreißig Jahre her, Kingsley. Vor dreißig Jahren warst du mein Liebhaber.“
„Non.“ Kingsley lehnte sich vor und warf einen prüfenden Blick auf die Glasscheibe, die sie vom Chauffeur trennte. Das Letzte, was er im Moment gebrauchen konnte, war irgendwelcher Klatsch über seine wilde Zeit mit Søren. Die BDSM-Szene war nämlich keineswegs so tolerant, wie sie vorgab. Zwar hieß es immer, jede Vorliebe würde gleichermaßen respektiert, aber er wusste, dass männliche Subs von männlichen Doms oft verachtet wurden. Von weiblichen Doms übrigens auch. Und von weiblichen Subs ebenfalls
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