Sklaven der Begierde
Ignatius hatte er auf sein übliches Outfit aus Reitstiefeln und dunklen Anzügen im viktorianischen oder Regency-Stil verzichtet. Er hatte auch die bestickten Seidenwesten, die Militärjacken und Halstücher im Schrank gelassen. Heute trug er einen schwarzen einreihigen Armani-Anzug, ganz schlicht. Einer seiner Angestellten hatte ihn wissen lassen, dass er darin langweilig und harmlos aussehe, und das war genau die Wirkung, die er erzielen wollte. „Ich habe la légion vor Jahren verlassen und lebe jetzt in Manhattan.“
„Ich habe gerüchteweise gehört, dass du jetzt Geschäftsmann bist. Will ich wissen, um welche Geschäfte es sich handelt?“
Kingsley schlug ihm auf die Schulter. „Non.“
Christian lachte und öffnete die Tür der kleinen Hütte.
Kingsley blieb auf der Schwelle stehen. Auf einmal hatte er Bedenken, weiterzugehen. Es gab hier so viele überwältigende Erinnerungen, und nicht alle waren gut.
„Komm ruhig rein. Es spukt nicht da drin. Das hat Father Henry nur erzählt, um die jüngeren Schüler davon abzuhalten, hier herumzustromern. Das ist gefährliches Gelände … Oh King. Entschuldige bitte.“
Kingsley trat ein. Er würde der Vergangenheit nicht noch mehr Macht über sich einräumen, als sie ohnehin schon hatte.
„Das ist dreißig Jahre her, Christian. Ich kann es ertragen, wenn über sie und ihren Tod gesprochen wird. Sonst wäre ich wohl kaum mit diesem blonden Monster befreundet geblieben, oder?“
„Ich kann immer noch nicht glauben, dass ihr beide überhaupt je Freunde wart.“ Christian deutete auf einen Stuhl, und Kingsley nahm dankbar Platz. Er sehnte sich nach seinen bequemen, unverwüstlichen Reitstiefeln aus geschmeidigem Leder. Diese Schuhe hier hingegen … würde er von einem seiner Assistenten verbrennen lassen, sobald er wieder zu Hause war. „Ich will ja nicht schlecht über einen Mit-Jesuiten reden, aber er ist ein komplizierter Mensch. Schwer einzuschätzen. Man kommt ihm nicht wirklich nahe. Allein die Vorstellung, mit ihm befreundet zu sein …“
Kingsley hörte einen Anflug von … irgendetwas in Christians Stimme. Er konnte es zunächst nicht einordnen, weil er es sonst so gut wie nie zu hören bekam. Verwirrt kniff er die Augen zusammen und musterte Christian prüfend. Ahnte er etwas? Er beschloss, sich nicht entgehen zu lassen, was genau sein alter Freund zu wissen glaubte.
„Ja, man kommt nur schwer an ihn heran. Aber wenn man es einmal geschafft hat, merkt man, dass es alle Mühen wert war.“ Auch Kingsley wusste, wie man subtil nach Informationen angelte.
Christian setzte den Wasserkessel auf. Kingsley schaute sich um und stellte fest, dass Søren nicht übertrieben hatte. Vor dreißig Jahren, als sie die Hütte für ihre Rendezvous genutzt hatten, gab es hier nur einen grob zusammengezimmerten Tisch, einen Stuhl und einen Stapel modernde Holzscheite neben dem von Spinnweben verhangenen Kamin.
„Ich kann mich noch gut an diesen Ort erinnern, Christian. Zu unserer Zeit war dieses Häuschen das reinste Rattenloch. Jetzt sieht es so aus, als ob ein Designer aus New York sich hier so richtig austoben durfte. Aufeinander abgestimmte Möbel? Eine Sitzgarnitur aus Leder? Guter Gott, für einen Priester lebst du ja reichlich luxuriös.“
Father Christian nahm den Spott mit gutmütigem Grinsen entgegen. „Ich kann mich nicht beschweren! Aber immerhin habe ich für diesen Job den Frauen entsagt. Da ist es nur recht und billig, dass man mir zumindest einen ordentlichen Platz zum Leben zur Verfügung stellt.“
„Wann ist hier denn so großzügig renoviert worden?“
„Kurz nachdem dein Freund Stearns uns so großzügig mit Geld bedacht hat. Zu der Zeit stand die Hütte wieder leer. Zwischenzeitlich waren hier ein paar Ausreißer aus Kanada untergeschlüpft.“
„Ausreißer aus Kanada?“
„Oder amerikanische Ausreißer, die nach Kanada wollten. Hier kommen jedes Jahr etliche Flüchtlinge von jeder Sorte durch. Dieses Tal verbindet die beiden Autobahnen.“
„Es ist lebensgefährlich da draußen. Was leider keiner besser weiß als wir.“
Christian nickte. „Beim Versuch, das Gelände zu durchqueren, sind tatsächlich schon einige ums Leben gekommen. Wir haben daraufhin angefangen, die Gegend hier besser im Auge zu behalten. Aber es schlüpfen immer wieder welche durch. Einmal haben wir sogar eine ganze Familie hier drin erwischt.“
„Ich bin sicher, dass ihr diesen Leuten gern helft.“
„Wir tun, was wir können. Möchtest du
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