Sklaven der Begierde
Kingsleys Ohr. „Wenn ich dich nicht verletze, wenn ich dir keine Schmerzen zufüge, kann ich nicht …“
Und Kingsley begriff. Søren konnte nicht sexuell erregt werden, es sei denn, er fügte jemandem Schmerzen zu. Auf einmal ergab alles einen Sinn. Sørens Zurückgezogenheit, die eisige Mauer, die er um sich herum errichtet hatte, diese Unnahbarkeit, die die anderen Jungen auf Abstand hielt – all das hatte nur einen Zweck. Er wollte die Menschen vor sich beschützen. Denn wer Søren nahekam, der musste durchs Feuer gehen, über Glasscherben schreiten und durch die Hölle kriechen.
Kingsley bog ihm seine Hüften entgegen, drückte sich in Sørens Hand. Diese eine Bewegung allein brachte ihn schon fast zum Höhepunkt. „ Je comprende.“
Søren ließ ihn langsam los und zog seine Hand zurück. Seine Augen weiteten sich leicht, so als sei er überrascht. „Du verstehst mich“, sagte er. „Aber ich verstehe dich nicht. Hast du denn keine Angst davor?“
Kingsley zuckte mit den Schultern. „Ich hab’s dir doch gesagt. Ich bin Franzose. Hast du jemals den Marquis de Sade gelesen?“ Er grinste breit, und Søren lächelte ihn an.
„Ja. Manchmal denke ich, ich bin er. Machiavelli habe ich auch gelesen. ‚Der Fürst‘. Es ist besser, gefürchtet als geliebt zu werden.“
Kingsley hörte das Bedauern in seiner Stimme, die Sehnsucht nach etwas, das er nicht haben konnte.
„Und“, fuhr Søren fort, „es ist sicherer, gefürchtet als geliebt zu werden. Jedenfalls was mich betrifft.“ Er lächelte jetzt beinahe scheu, und Kingsley verstand ihn wirklich ganz und gar. Warum er so kalt war, so isoliert. Warum er in allen, die sich im näherten, so viel Furcht wecken konnte und warum er es auch tat.
Wieder legte er die Hände auf Sørens Brust und fühlte sein Herz schlagen, langsam und stetig.
„Ich will nicht in Sicherheit sein“, flüsterte er.
„Du weißt nicht, was du da sagst, Kingsley.“
„Ich weiß ganz genau, was ich da sage. Du glaubst, dass du kaputt bist. Nein , du bist perfekt.“ Er sagte die Worte auf Französisch. Offen zu reden fiel ihm in seiner Muttersprache leichter.
„Würdest du so sein wollen wie ich, wenn du es dir aussuchen könntest?“
„Ich habe es mir ausgesucht. Und du bedauerst es nur deshalb, weil du dich gezwungen fühlst, andere von dir fernzuhalten. Aber davon lasse ich mich nicht abschrecken.“
„Ich habe immer …“ Søren schaute weg, schaute nach oben und seufzte. „Ich habe immer glauben wollen, dass Gott einen Grund hatte, mich zu dem werden zu lassen, der ich bin.“
„Je suis la raison.“
Ich bin der Grund .
Søren atmete langsam aus. Er ließ eine Hand an Kingsleys Arm emporgleiten, legte sie an seinen Hals, beugte sich vor und drückte seinen Mund auf Kingsleys Lippen. Kingsley öffnete seine Lippen und gewährte Søren Einlass in seinen Mund. Es war ein sanfter Kuss, intim und doch behutsam.
„ Ma raison d’être“ , flüsterte Søren, und Kingsley bebte vor Verlangen. Mein Grund, zu leben .
„Du hältst dich zurück. Das spüre ich“, murmelte er.
„Ich muss. Wenigstens fürs Erste. Sonst breche ich dich wieder entzwei.“
„Aber das will ich doch. Ich will dich.“
Søren gab ihm einen weiteren, schnellen Kuss. „Bald. Ich werde eine Möglichkeit finden. Aber ich werde dich wieder verletzen, da bin ich mir sicher. Du musst mir dabei helfen, nicht zu weit zu gehen.“
Kingsley packte Sørens Hemd mit beiden Händen und versuchte, ihn näher an sich heran zu ziehen. Nach mehr als zweimonatiger Trennung war sein Verlangen tief und schmerzhaft. Er konnte Søren nicht gehen lassen. Noch nicht.
„Ich habe dich in dieser Nacht angefleht, aufzuhören. Ich sagte ‚Stopp‘ und ‚Bitte‘ und ‚Nein‘, und du hast immer weitergemacht. Ich wollte auch nicht, dass du aufhörst … aber ich wüsste auch gar nicht, was ich tun sollte, damit du aufhörst.“
„Es hat nicht funktioniert, weil ich wusste, dass du nicht willst, dass ich aufhöre.“
„Aber irgendwann will ich das vielleicht.“
„Dann sag …“ Søren unterbrach sich und ließ seinen Blick durch den Flur schweifen. Die kalten Steinwände waren schmucklos, bis auf ein paar Bilder von diversen Heiligen und Päpsten. „Erbarmen.“
Kingsley lachte. „Erbarmen? Wirklich?“
Søren nickte. Aber er lachte nicht, lächelte nicht einmal.
„Erbarmen …“ Kingsley ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. „Das klingt ziemlich poetisch. Und
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