Sklaven der Begierde
Kingsley, dass das der Moment gewesen war, in dem sie gestorben war.
„Natürlich bis auf das, was zu ihrem Tod führte“, antwortete er jetzt, aber er war nicht sicher, dass das wirklich der Wahrheit entsprach. Hätte Marie-Laure weitergelebt, wäre Søren Klavierlehrer und Collegeprofessor geworden. Er hätte seiner Berufung zum Priesteramt nicht folgen können. Kingsley wusste, dass er ohne Søren heute ein toter Mann wäre. Nachdem sie sich getrennt hatten, lebte er mehr als zehn Jahre lang so gefährlich, wie er konnte. Er lief vor dem Tod davon wie damals, in jener ersten Nacht, vor Søren – in der Hoffnung, dass er eingeholt und überwältigt würde. Erst nachdem sie einander wiedergefunden hatten, fand Kingsley wieder einen Sinn im Leben, einen Grund, weiterzumachen.
Und Eleanor … Nora – Sørens Kleine. Sie läge ebenfalls längst unter der Erde, wenn Søren sie nie getroffen hätte. Ein geradezu verlockender Gedanke, wie Kingsley nur sich selbst gegenüber eingestand. Eine Welt ohne Nora Sutherlin – die würde er sich eigentlich doch ganz gerne mal ansehen.
„Ich habe nur von dem gesprochen, was zwischen Father Stearns und mir passiert ist, als wir Teenager waren. Was das betrifft, bereue ich nichts, obwohl er jetzt ein Priester ist. Und noch dazu ein streng gläubiger.“
„Aber nicht zu streng gläubig, um sich mit dir in der Öffentlichkeit blicken zu lassen.“ Christian lächelte.
„Das hier ist ja wohl kaum öffentlich. Und jetzt ist er ohnehin seiner eigenen Wege gegangen, vermutlich leitet er mit Father Aldo den Gottesdienst in der Kapelle.“
„Ach, Father Aldo ist schon lange weg. Zurück in Südamerika. Er rettet jetzt Seelen auf der südlichen Erdhalbkugel.“
„Die Schüler vermissen bestimmt sein gutes Essen.“
„Das tun wir alle. Nur Marie-Laure konnte eine bessere crème brûlée machen als er, einfach zum Sterben gut.“
Kingsley atmete heftig aus. „Vielleicht ist sie ja deshalb gestorben.“
Christian presste die Lippen zusammen und warf ihm einen halb amüsierten, halb entsetzten Blick zu.
„Dir ist schon klar, dass du nur vom Thema ablenken willst, oder?“
„Bist du Priester oder Psychologe? Ich weiß gerade nicht, was von beiden schlimmer ist.“
„Ich bin beides.“ Christian lehnte jetzt am Rand der Tischplatte. „Magister der Theologie und Psychologie, Doktor der Psychologie. Priester sollten immer auch Psychologen sein, vor allem an einer Schule für sozial gefährdete Jungen. Aber man braucht keinen Doktortitel, um zu erkennen, dass du immer noch sehr um deine Schwester trauerst. Jeder deiner kleinen Scherze ist ein Beweis dafür.“
Kingsley hätte fast wieder einen Scherz gemacht, rief sich aber noch rechtzeitig zur Ordnung. Christian hatte ja recht. Und es brachte gar nichts, die Wahrheit zu verleugnen.
„Bien sûr . Natürlich trauere ich noch um sie, in letzter Zeit sogar mehr als seit Jahren. Und hier zu sein reißt natürlich alte Wunden wieder auf.“
„Ja, dieser Ort macht es schwer, Vergangenes zu vergessen, das kann ich mir gut vorstellen.“
„Mit dir zu reden hat geholfen. Zu gestehen, dass ich einen Großteil der Schuld an ihrem Tod trage.“
Christian schüttelte den Kopf. „Da bin ich mir nicht so sicher. Sich das Leben zu nehmen ist die schwerste aller Sünden. Wer einen Menschen tötet, tötet nur diese eine Person. Wer sich selbst tötet, tötet alle Menschen. War es furchtbar für sie, ihren Mann mit ihrem Bruder zu erwischen? Ja. Unfassbar furchtbar. Aber musste sie deshalb alle mit in den Abgrund reißen? Vielleicht steckte ja doch mehr dahinter.“
„Mehr?“
Christian stand auf und ging einmal um den kleinen Tisch herum. Diese Angewohnheit hatte er schon früher gehabt, erinnerte Kingsley sich. Während der Gruppenarbeit konnte Christian nie stillsitzen. Er musste herumlaufen, um denken zu können.
„Ein Foto von dir und Stearns, das ich seinerzeit geschossen habe, wurde dir anonym zugeschickt. Und du verstehst das als Drohung.“
„Es ist eine Drohung. Die anderen Vorkommnisse … waren ebenfalls bedrohlich. Das Bett in Father Stearns ehemaligem Kinderzimmer wurde niedergebrannt. Und aus meinem Büro hat jemand eine Akte gestohlen, die private Informationen über Stearns enthält. Was darin steht, könnte ihn ruinieren. Und das hat er nicht verdient. Wenn überhaupt ein Mensch das Recht hat, Priester zu sein, dann er.“
„Wenn du das sagst, dann glaube ich dir. Aber offenbar haben alle Drohungen mit
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