Sklaven der Begierde
Stearns’ Privatleben zu tun. Und Marie-Laure ist auf dem Felsen da draußen gestorben. Und die Drohungen … all diese Drohungen …“
„Haben mit ihm zu tun, oui . Das wissen wir.“
„Mit wem haben sie noch zu tun?“
„Mit drei Menschen. Es sind die einzigen Menschen, mit denen er je zusammen war, und mehr kann ich dazu nicht sagen.“
„Nur drei?“ Christian grinste, und für ein paar Sekunden konnte Kingsley den boshaften und frivolen Teenager von früher in ihm erkennen. „Da habe ja sogar ich eine bessere Quote.“
Kingsley stieß einen Seufzer aus und blickte auf den nackten Holzboden beim Kamin. Dort hatten er und Søren sich einst in einer bitterkalten Winternacht unter Decken zusammengekuschelt, um warm zu werden. Er war noch nie im Leben so dankbar für Kälte gewesen.
„Ich habe absolut keine Ahnung, wer es wagen würde, ihm so etwas anzutun …“
„Ich werde dir jetzt etwas sagen, Kingsley, und ich möchte nicht, dass du es mir übel nimmst.“
Kingsley sah ihn scharf an. „Sag schon.“
„Ich habe Stearns gehasst. Damals, als wir in der Schule waren. Und ich benutze das Wort ‚Hass‘ nicht leichtfertig.“
„Ich weiß, dass viele ihn beneidet haben.“
„Beneidet und verabscheut. Er war besser als wir. Und nein, damit will ich nicht sagen, dass er sich für etwas Besseres hielt. Ich glaube nicht, dass er das tat. Er war wirklich besser als wir. Klüger und sehr viel attraktiver. Er sieht noch heute sehr viel besser aus als jeder andere Mann, den ich kenne. Er konnte eine neue Sprache schneller lernen als ich eine neues Lied auf der Gitarre. Er spielte Klavier wie ein Gott. Die Priester verehrten ihn. Und als deine Schwester zu Besuch kam, das schönste Mädchen, das wir je gesehen hatten, war er es, in den sie sich verliebte und den sie heiratete. Vor dreißig Jahren hätte ich ihn am liebsten umgebracht.“
„Und heute?“
Christian schüttelte den Kopf. „Das waren damals hauptsächlich die Teenager-Hormone, kombiniert mit jugendlichem Weltschmerz. Heute kann ich ihn nur bewundern. Auch wenn ich mich ein bisschen um seine Gemeinde sorge.“
„Das ist nicht nötig, die ist in den besten Händen. Aber was willst du mir eigentlich sagen?“
„Ich will sagen, dass es ganz offensichtlich jemanden gibt, der Stearns immer noch hasst. Und wenn dieser Jemand über ihn und dich Bescheid weiß … und über Marie-Laure … Wenn dieser Jemand sie noch mehr geliebt hat als ich und Stearns die Schuld an ihrem Tod gibt …“
Mehr brauchte Christian nicht zu erklären. Plötzlich hatte Kingsley das Motiv klar vor Augen, über das er den ganzen Sommer nachgegrübelt hatte, seit dem Moment, in dem er seine Rottweiler betäubt vorgefunden hatte und Eleanors Akte verschwunden war.
Sørens erste Geliebte war Elizabeth gewesen, seine eigene Schwester.
Der zweite Mensch, mit dem er intim wurde, war Kingsley. Eine verbotene Liebe in vielerlei Hinsicht, schließlich hatten sie sich auch noch getroffen, als Søren bereits Kingsleys Lehrer war.
Und seine Eleanor, seine wahre Ehefrau – viel mehr, als Marie-Laure das je hätte sein können – war erst fünfzehn Jahre alt gewesen, als die beiden sich ineinander verliebt hatten. Fünfzehn, und dazu auch noch Mitglied seiner Gemeinde.
„Du könntest recht haben. Vielleicht hat jemand Marie-Laure damals tatsächlich so sehr geliebt, dass er sich noch drei Jahrzehnte später an Father Stearns rächen will. Du warst doch damals mit jedem an der Schule befreundet. Wer außer dir war denn noch scharf auf meine Schwester?“
Christian seufzte tief, ging zu einem kleinen Sekretär und zog die mittlere Schublade auf. Er nahm ein gerahmtes Foto heraus und hielt es Kingsley entgegen.
Kingsley nahm das Bild und starrte darauf.
Ihm stockte der Atem, und er hatte auf einmal einen Kloß im Hals.
Aus dem Rahmen blickte ihm ein Mädchen von kaum zwanzig Jahren entgegen. Um die Schönheit der jungen Frau zu beschreiben, musste man auf Klischees zurückgreifen. Ihr kastanienbraunes Haar war wie Seide, endlos lange Wimpern umrahmten ihre geradezu überirdisch leuchtenden kupferfarbenen Augen, die von ihrem Lächeln, so bezaubernd und einladend es auch war, nie ganz erreicht wurden. Sie hatte den anmutigen Nacken und die graziösen Hände einer Tänzerin und einen olivfarbenen Teint wie ihr Bruder.
„Ma sœur …“ Kingsley berührte das Glas mit der Fingerspitze. Dann riss er seinen Blick von dem Foto los und sah Christian an.
„Wer war noch in
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