Sklaven der Flamme
betrachtete die Uhren in seiner Augenhöhe. Als er das letzte Mal in diesem Zimmer gewesen war, hatte er sich mit einem niedrigeren Regalbrett begnügen müssen. Das Licht von der Tür her ließ die Zifferblätter sichelförmig aufschimmern. Einige hatten die Größe seines Fingernagels, andere waren so groß wie sein Kopf. Ihre Zeiger waren unsichtbar, und auch die Gehäuse lagen im Dunkeln. (Er erinnerte sich an schlichte Golduhren, an reich verschnörkelte Silberuhren und an ein ganz besonderes Stück in Form eines Ankers, das von Muscheln und Korallen umgeben war.) In fünf Jahren waren gewiß viele neue Uhren hinzugekommen, dachte er. Wie viele würde er erkennen, wenn er das Licht anknipste?
Mit achtzehn hatte er in diesem Raum gestanden und den schmalen Doppeldorn der Feuerwaffe untersucht. Das Licht war ausgeschaltet, und als er auf den Schalter am Knauf drückte, tanzten weiße Funken die Klinge entlang und ließen die Uhren aufleuchten. Später, im königlichen Palast, hatte er die gleiche Waffe in der Hand gehalten. Panik hatte ihn ergriffen, die plumpe Angst vor der Entdeckung, dann Verwirrung, die sich von neuem in Panik verwandelte. Die Furcht hatte ihn gelähmt, und als er versuchte, durch den Bogengang zu laufen, waren seine Füße zu schwer gewesen. Er stolperte über die Statue in der Nische, wirbelte herum und richtete die hellen Flammen seiner Waffe auf den Wachtposten, der ihn verfolgte. Aber dann war er auch erschöpft. Er ließ sich widerstandslos festnehmen.
Plump, dachte er. Nicht, was seine Fingerfertigkeit betraf. (Er hatte viele Uhren, die sein Vater mehr oder weniger beschädigt heimbrachte, repariert.) Aber plump im Denken. Seine Emotionen waren nicht fein und geschliffen; Ärger oder Furcht überfielen ihn stoßweise, ohne daß er die Quelle erkennen konnte. Verachtung oder auch Liebe, wenn er sie gefühlt hatte, vermischten sich, waren austauschbar. (Die Schule war wunderbar; er hatte einen großartigen Geschichtslehrer … die Schule war häßlich und laut; die Kinder benahmen sich rüpelhaft und ungezogen. Sein blauer Sittich hatte herrliches Gefieder; er konnte sogar pfeifen … immer lag Unrat auf dem Käfigboden umher; es war lästig, ständig das Papier zu wechseln.)
Dann waren die fünf Jahre Gefangenschaft gekommen. Und das erste klare Gefühl durchdrang sein Gehirn, scharf wie eine aufgerollte Unruhfeder, scharf wie der Stein in einem Giftring. Es war ein Wunsch, ein Schmerz, der quälende Drang nach Freiheit. Die Fluchtpläne waren kompliziert gewesen, aber doch scharf wie die Sprünge in der blauen Vasenglasur. Das Lechzen nach Freiheit hatte wie eine Hand seinen Magen umkrampft, und als er mit den beiden anderen endlich im Regen neben der Treppe gewartet hatte, war der Krampf unerträglich geworden. Dann …
Wie war es bei aller Klarheit möglich gewesen, daß er die beiden anderen aus den Augen verlor? Weshalb war er in die falsche Richtung gewandert? Plump! Und er hatte gehofft, davon frei zu sein. Hatte er in Wirklichkeit davon frei sein wollen, während er die Gefangenenwärter haßte, das Essen in sich hineinwürgte und seine wilden Gefühlsaufwallungen unterdrückte? Dann zeigte sich am Horizont der blaßpurpurne Schimmer, heller als der Sonnenaufgang, tödlicher als die See, ein flirrender, leuchtender Schleier hinter den Bergen. Um ihn waren die Gerippe zerbrochener, jahrhundertealter Bäume, blattlos, nahezu versteinert. Der lockere Mulm sah aus, als sei er mit vollen Händen über das Land gestreut worden. Wurzeln konnten hier keinen Halt finden, und auch Fußspuren verwischten sich im Nu. Ein dünnes, schwarzes Rinnsal floß an einem Felsbrocken vorbei, unter einem Baumstamm durch. Schwaches Licht tanzte auf den krausen Wellen. Er sah auf.
Am Horizont zeichnete sich eine Stadt ab – wie aus schwarzem Papier geschnitten, nein, gerissen. Turm neben Turm ragte in den Perlmuttdunst. Dazwischen wand sich ein Netz aus Verbindungsstegen.
Dann erkannte er einen winzigen Metallfaden, der von der Stadt etwa in seine Richtung verlief. Eine halbe Meile von ihm entfernt schwenkte er nach rechts ab und verschwand schließlich im Dschungel, den Jon nun hinter sich erkannte. Telphar! Das Wort schnellte in sein Bewußtsein. Die Strahlung! Das war sein nächster Gedanke. Noch einmal zitterte der Name der Stadt in seinem Innern: Telphar! Es traf ihn wie ein Faustschlag. Er war in den sicheren, ganz sicheren Tod gewandert. Fast schien es ihm, als würde der Name laut in
Weitere Kostenlose Bücher