Sklaven der Flamme
alle Wissenschaftler einziehen werden. Vielleicht ist der Krieg gut, Tomar, aber ich arbeite an einem anderen Projekt, und ganz plötzlich habe ich das Gefühl, daß ich es unbedingt zu Ende führen muß. Ich will es, und ich will dich, und ich will das Picknick. Ich bin jetzt der Lösung ganz nahe, und wenn ich aufhören und an Bombenabwürfen und Raketenbahnen arbeiten muß … Tomar, es steckt Schönheit in der abstrakten Mathematik, und man sollte sie nicht durch solche Dinge zerstören. Außerdem muß einer von uns beiden vielleicht fort von hier. Das erscheint mir unfair, Tomar. Hattest du je etwas heiß Ersehntes zum Greifen nahe, und es wurde dir plötzlich weggerissen?«
Tomar fuhr sich mit der Hand über das kurzgeschnittene rote Haar und schüttelte den Kopf. »Früher einmal, da wünschte ich mir viel. Essen, Arbeit und ein Bett, bei dem alle vier Pfosten gleich lang waren. Also kam ich nach Toron. Und da erfüllten sich alle Wünsche. Ich bekam außerdem dich. Wahrscheinlich gibt es nichts, das ich mir sehnlicher wünsche.« Er grinste, und sein Grinsen entlockte ihr ein Lächeln.
»Wahrscheinlich« – begann sie, »wahrscheinlich ist alles nur so, weil er wie mein Bruder aussah.«
»Clea«, sagte Tomar. »Es geht um deinen Bruder. Ich wollte dir das erst später erzählen. Vielleicht sollte ich es überhaupt nicht tun. Aber du hast gefragt, ob man Sträflinge in die Armee holen würde und ob sie dafür später die Freiheit erlangen würden. Nun, ich habe mich erkundigt. Man zieht sie tatsächlich ein. Ich bat sie, deinen Bruder gleich beim ersten Transport herauszuholen. Drei Stunden später erhielt ich einen Bericht vom Strafkommissar. Dein Bruder ist tot.«
Sie sah ihn starr an und versuchte, die Augen offenzuhalten. Das leise Schluchzen, das sich über ihre Lippen stahl, ließ sich nicht mehr zurückholen.
»Es geschah erst letzte Nacht«, fuhr Tomar fort. »Er und zwei andere unternahmen einen Fluchtversuch. Zwei wurden tot aufgefunden. Und es besteht keine Chance, daß der dritte überlebt hat.«
Einen Moment lang saß sie ganz still da und unterdrückte auch das Schluchzen. Dann sagte sie: »Gehen wir zurück zum Fest.« Sie stand auf, und gemeinsam gingen sie über den weißen Teppich zur Tür. Einmal schüttelte sie den Kopf, wollte etwas sagen und schwieg wieder. Schließlich meinte sie leise: »Ja. Ich bin froh, daß du es gesagt hast. Ich weiß nicht, vielleicht war es ein Zeichen … ein Zeichen, daß er tot ist.« Sie blieb stehen. »Nein, es war kein Zeichen. Es war überhaupt nichts, oder? Nein.« Wieder schritt sie die Treppe zum Ballsaal hinunter. Die Musik war sehr fröhlich.
5.
Ein paar Stunden zuvor hatte Geryn Tel eine Kharbafrucht gegeben. Der Junge trug die hell gefleckte Melone aus dem Haus und suchte nach Alter. Da er sie in der Nähe der Kneipe nicht finden konnte, wanderte er die Straße entlang. Einmal schoß eine Katze mit einem zappelnden grauen Bündel im Maul an ihm vorbei. Später sah er einen umgekippten Abfallbehälter. Obenauf lag ein Filigranmuster aus Fischgräten. Hinter den Hausdächern stiegen die Wohnblocks und Türme von Toron auf; sie hatten ein verschleiertes Blau angenommen. Gelbe Lichtvierecke zeichneten sich scharf von den ebenmäßigen Flächen ab.
Als er in die andere Richtung ging, sah er Rara an der Ecke stehen. Sie sprach die Vorübergehenden an. Tel wollte sich zu ihr gesellen, aber als sie ihn sah, verscheuchte sie ihn mit einer Handbewegung. Verwirrt setzte er sich auf den Boden und beobachtete sie. Als er mit dem Daumennagel über die goldgelbe Schale kratzte, tropfte Saft aus dem Riß. Er hörte, wie Rara mit einem Fremden sprach.
»Ihre Zukunft, mein Herr. Ich breite die Zukunft wie auf einem Silberspiegel vor Ihnen aus …« Der Fremde ging vorüber. Rara wandte sich an die Frau, die ihr jetzt entgegenkam. »Madame, für den Bruchteil eines Units sehen Sie Ihr zukünftiges Leben wie einen bunten Teppich vor sich. Ein Viertelunit …« Die Frau lächelte, aber sie schüttelte den Kopf. »Sie scheinen vom Festland zu kommen«, rief Rara ihr nach. »Nun, viel Glück in der Neuen Welt, Schwester, auf der Insel der ungeahnten Möglichkeiten.« Sofort richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf einen Mann in dunkelgrüner Uniform. »Sir«, hörte Tel sie sagen. Dann betrachtete sie seine Kleidung und begann von neuem. »Sir, für einen einzigen Unit entwirre ich die Fäden des Geschicks für Sie. Möchten Sie nichts über die
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