Sklaverei
dringenden Aufruf. In diesem Moment dachte ich, dass die Journalisten lebend wieder auftauchen würden. Ich täuschte mich.
Die Nonnen von La Merced
Zusammen mit einigen Menschenrechtsaktivistinnen besuchte ich den Stadtteil La Merced von Mexiko-Stadt, um dort Recherchen anzustellen. Bei unseren Nachforschungen konnten wir 1528 versklavte Frauen in von der Mafia geschützten Bordellen ausfindig machen, davon 947 Minderjährige. Ein Drittel dieser Frauen stammte aus Brasilien, El Salvador, Guatemala und der Dominikanischen Republik. Im chinesischen Viertel der Stadt wurden sieben Mädchen zwischen acht und elf Jahren gefunden, die aus Nordchina kamen und sexuell ausgebeutet wurden.
Um durch die Straßen von La Merced zu gehen, verkleideten wir uns als Nonnen mit schwarzer Tracht und weißer Haube. Es war eine beeindruckende Erfahrung. Zuhälter begrüßten mich mit einer leichten Verneigung. Ältere Prostituierte baten mich: »Beten Sie für mich, Mutter.« Der Besitzer eines Stundenhotels sagte einer meiner Begleiterinnen, er habe gerade der Basilika der Jungfrau von Guadalupe eine große Summe gespendet. In den Augen der Menschen sah ich eine Mischung aus Ehrfurcht und Respekt gegenüber den Nonnen. Für eine Frau gibt es definitiv nur zwei Möglichkeiten, sich durch die von der Mafia kontrollierten Straßen von La Merced zu bewegen, ohne Verdacht zu erregen: als Nonne oder als Nutte.
Es fiel mir schwer, das zu verarbeiten, was ich in La Merced hörte und sah. Ich bin in Mexiko-Stadt aufgewachsen, und zwar in einem Stadtteil der Mittelschicht. Schon als Kind konnte ich sehen, wie die Armen in Mexiko leben. Vielleicht hatte ich unbewusst etwas weniger Krasses erwartet als das, was mir dort schließlich begegnete, weil ich einen Monat zuvor mit Vertreterinnen von Organisationen gesprochen hatte, die eine gesellschaftliche Anerkennung der Prostitution verlangten. Ich hatte Akademikerinnen, Politikwissenschaftlerinnen, Aktivistinnen und Soziologinnen zugehört, die eine Normalisierung der Prostitution forderten. Alle hatten mir versichert, die Vermischung von Prostitution und Zwangsprostitution sei lediglich ein Produkt der übertriebenen Moralisierung und der krankhaften Besessenheit von Menschenrechtsaktivisten und Journalisten, die voyeuristische Geschichten über sexuelle Ausbeutung verbreiteten. Ich gestehe, dass ich danach erwartet hatte, in La Merced etwas anderes zu sehen als in Bangkok oder Kambodscha. Doch ich hatte mich getäuscht.
Ich weiß nur zu gut, dass man sich einen emotionalen Schutzschirm aufbauen muss, um sich mit dem Thema der Sexsklaverei zu beschäftigen. Die Begegnung mit der Mafia und der Zwangsprostitution stellt eine gewaltige emotionale Belastung dar, vor allem wenn minderjährige Jungen und Mädchen betroffen sind. Bei unserem Besuch war der Eindruck vernichtend. Auf den Straßen, in denen sich die Bordelle befinden, wird eine eigene Sprache gesprochen. Man muss nur sehen, wie die Zuhälter im Eingang eines Hauses oder Stundenhotels lehnen. Auf der Straße stehen meist paarweise junge Frauen in einer Kleidung, die einer Verkleidung ähnelt. Die Lippen grell rosa geschminkt, die Augen mit schwarzem Eyeliner, falschen Wimpern und blauen, grünen und schwarzen Lidschatten. Sie wirken müde, teilnahmslos beobachten sie die vorüberfahrenden Autos und warten auf Männer.
Wir setzen unseren Pilgergang fort. Ein höchstens 17 -jähriges Mädchen mit weißen Netzstrumpfhosen und hohen Lackpumps schaut mich an. Wie gebannt erwidere ich ihren Blick. Dann erinnere ich mich, dass ich eine Nonne bin und lächle sie freundlich an, worauf wir beide beschämt den Blick senken. Wir gehen weiter. An einer Straßenecke steht ein Streifenwagen mit zwei Polizisten, die sich gelangweilt umsehen. Gegenüber vor einer grüngestrichenen Wand stehen drei etwa 40 -jährige Frauen mit verwelkten und mit Schminke zugekleisterten Gesichtern. Sie unterhalten sich, ohne die Vorübergehenden aus den Augen zu lassen. Zwei junge Männer nähern sich und verhandeln. Eine Frau mit großen Brüsten folgt einem Jungen, der vielleicht 23 Jahre alt sein mag. An einem Eisenwarenladen biegen die beiden um die Ecke und verschwinden in einem Hotel.
In der Lobby eines Stundenhotels sitzen fünf Mädchen, die nicht älter als zwölf sein können, an einem Plastiktisch und löffeln Suppe. Eines der Mädchen schaut mit dem Löffel im Mund zu einem Pärchen hinüber, das zur Tür des Hotels hereinkommt. Die Kleine wippt mit den
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