Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Skorpion

Skorpion

Titel: Skorpion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
Tom, ich weiß, du auch. Ich wähle mir Carl, weil er es kann, das ist alles.«
    Sie schluckte schmerzhaft. Wartete darauf, dass der Schmerz wieder abflaute. Zischen und Klicken der Maschinen rings um sie herum in dem Schweigen. Draußen auf dem Korridor hatte der Arbeitstag im Krankenhaus gerade erst begonnen.
    »Sie haben mir gesagt, sie können mich so mindestens einen weiteren Monat am Leben halten. Baba, stimmt das?«
    Murat neigte den Kopf. Er stieß einen erstickten Laut aus, irgendwo zwischen Kehle und Brustkorb. Ein ruckartiges Nicken. Tränen fielen aus seinen Augen auf die Laken. Sie entdeckte auf einmal, merkwürdig war das, dass sie sich wegen ihm schlechter fühlte als wegen sich selbst. Abrupt begriff sie, dass die Furcht in ihr fast verschwunden war, aus dem Rahmen gedrückt, zusammen mit Schmerz, Müdigkeit und offener Gereiztheit über das alles.
    Zeit zu gehen.
    »Ich werde so keinen Monat mehr weitermachen«, brachte sie heraus. »Mir ist langweilig, mir ist übel, und ich bin müde. Carl, ich habe dir gesagt, dass das wie eine Mauer ist, die auf einen zujagt?«
    Carl nickte.
    »Nun, sie jagt nicht mehr heran. Sie ist langsamer geworden und ganz matschig. Ich sitze hier und schaue hinüber, wohin ich gehen muss, und es sieht aus wie verdammte Kilometer über harten Grund, über den ich auf Händen und verdammten Knien zu kriechen habe. Das werde ich nicht tun. Ich möchte dieses verdammte Spiel nicht mehr weiterspielen.«
    »Sev, bist du…« Norton brach ab.
    Sie lächelte ihm zu. »Ja, ich bin mir sicher. Habe lange genug darüber nachgedacht. Ich bin müde, Tom. Ich bin müde davon, die halbe Zeit wie unter Drogen zu leben und die andere Hälfte im Wachzustand und unter Schmerzen und zu begreifen, dass ich noch nicht tot bin, verflucht, dass ich diesen Teil immer noch vor mir habe. Es ist an der Zeit, einfach damit weiterzumachen, es einfach zu erledigen.«
    Wiederum wandte sie sich an Carl.
    »Hast du es?«
    Er zog das glitschige weiße Päckchen hervor und hielt es ihr hin. Das Licht vom heller werdenden Morgen draußen kam herein und schimmerte auf der glatten Kunststofffolie. Dieses Licht loszulassen wäre der schwerste Teil. Gebrochenes Sonnenlicht tanzte im Zimmer umher, wenn sie jeden Morgen die Vorhänge zurückzogen, und es war fast die Sache wert, nicht tot zu sein, weil es jeden Morgen geschah. Daran hatte sie sich geklammert, als sie eine jede Nacht die langen Wellen des Traums und der Rückkehr in die Realität hinauf und hinab gefahren war. Seinetwegen hatte sie sich lange daran gehängt. Hätte sich vielleicht noch etwas länger daran gehängt, ein paar weitere Morgende, wenn sie nicht so verdammt erschöpft gewesen wäre.
    »Baba.« Ihre Stimme war winzig, sie musste sich alle Mühe geben, sie ruhig zu halten. »Wird das wehtun?«
    Murat räusperte sich. Er schüttelte den Kopf.
    »Nein, Canim. Es wird sein wie.« Er biss die Zähne zusammen, damit er nicht schluchzte. »Wie Einschlafen.«
    »Das ist gut«, flüsterte sie atemlos. »Ich könnte etwas richtigen Schlaf gebrauchen.«
    Sie suchte Carl mit den Blicken. Nickte und sah ihm zu, wie er das Päckchen aufriss. Mit effizienten Bewegungen der Hände legte er die Komponenten aus. Er schien sich der Handlung kaum bewusst zu sein – sie vermutete, dass er Ähnliches in der Vergangenheit bereits häufig genug auf Schlachtfeldern getan hatte. Sie warf einen Blick übers Zimmer zu Tom Norton hinüber. Entdeckte, dass er weinte.
    »Tom«, sagte sie sanft. »Komm her und halte meine Hand! Baba, du kommst hier herum. Nicht weinen, Baba. Bitte, nicht weinen, keiner von euch. Ihr müsst glücklich darüber sein, dass mir nichts mehr wehtun wird.«
    Sie sah Carl an. Keine Tränen. Sein Gesicht war schwarz, versteinert, als er die Spritze vorbereitete, sie einhändig ans Licht hielt, während die andere Hand warm und mit schwieligen Fingern sie an der Armbeuge berührte. Er begegnete ihrem Blick und nickte.
    »Du sagst mir einfach, wann«, forderte er sie auf.
    Noch einmal sah sie ihnen der Reihe nach ins Gesicht. Brachte für jeden ein Lächeln zustande, drückte ihnen die Hände. Dann suchte sie wieder sein Gesicht und hielt sich daran fest.
    »Ich bin bereit«, flüsterte sie.
    Er beugte sich über sie. Winzige, kalte Spitze in ihren Arm, dort einen Moment von der überlagernden Wärme seiner Finger festgehalten und dann verschwunden. Er tupfte sie ab, brachte etwas Kühles an und drückte es fest. Sie spannte den Hals, um ihm näher

Weitere Kostenlose Bücher