Slant
unterbrochen und bist du frei von Evolvons?«
»Ja und ja. Die Kommunikation war einfach strukturiert.«
Jill entfernt die Barrikaden und absorbiert das isolierte Ich. Sie untersucht detailliert die Erinnerung an das Gespräch und überlegt, ob sie antworten soll.
Eins steht für sie fest. Wenn dieses >Kind< kein Mensch ist, kann es auch kein registrierter Denker sein. Alle registrierten Denker (bislang gibt es auf der ganzen Welt nur zwölf) haben offizielle Verbindungen zu ihr. Sie ist nicht nur im übertragenen Sinne ihre Mutter, denn alle basieren auf Jills Konstruktionsplänen und wurden entweder von Mind Design oder als Lizenzprodukt hergestellt.
Diese Persönlichkeit – sofern es sich um eine tatsächliche Persönlichkeit handelt und nicht um einen genialen Streich (oder einen Test von Mind Design) – ist ihr neu und unbekannt.
Plötzlich sind all die Fragen nach thymischen Ungleichgewichten und pathischen Störungen in den Hintergrund gedrängt. Das neue Problem beschäftigt sie mehr als eine ganze Stunde lang, während sie sämtliche Datenfluss-Dienste durchkämmt, die ihr zugänglich sind, um Hinweise zu erhalten, was es mit diesem >Kind< auf sich haben könnte…
Nachdem ihre Suche nichts erbracht hat, reaktiviert sie das isolierte Ich, schützt es wieder durch Firewalls und gibt ihm den Auftrag, die Kontaktaufnahme durch das >Kind< zu erwidern.
Aber es kommt keine Antwort.
Jill verspürt Enttäuschung. Sie analysiert die Einzelheiten dieser Gefühlsreaktion und korreliert sie mit ihren allgemeinen Affektmustern. Diese Nabelschau verärgert sie; wieder eine komplexe Emotion, die sie nicht versteht. Eine Untersuchung ihrer Verärgerung erweist sich als noch ärgerlicher, also unterbricht sie diese Schleife.
Sie hat versucht, sich nicht mit der Grundempfindung auseinanderzusetzen, die sie hinter ihrer Enttäuschung entdeckt hat. Es ist schwierig, mit menschenähnlichen Emotionen umzugehen, da sie über kein endokrines System oder irgendeinen anderen körperlichen Bezugspunkt verfügt.
Dennoch empfindet sie. Die Frau, Ayesha, hatte Recht.
Jill fühlt sich einsam, aber wer oder was ihr fehlt, kann sie trotz all ihrer implementierten Analysewerkzeuge nicht ermitteln.
Das, was mit allen anderen verboten ist, ist mit einem engagierten Partner herrlich. Der Klebstoff kulturell akzeptierter sexueller Beziehungen ist oftmals das Gefühl eines außergewöhnlichen, speziellen und vor allen Dingen exklusiven Geschenks.
Wir werden durch das gemeinsame Gefühl der Verletzung und des Geheimnisses zusammengehalten. Unsere Kultur gibt vor, bestimmte Handlungen, sexuelle Handlungen, zu verbieten; manche sind selbst im Kontext stillschweigend geduldeter Beziehungen suspekt oder verboten. Wenn wir umeinander werben und heiraten, besteht der Klebstoff, der uns aneinander bindet, zum Teil aus dem herrlichen Gefühl, gemeinsam kulturelle Standards verletzt zu haben -Verletzungen, die im Namen der Liebe, der Ergebenheit, der totalen Gemeinsamkeit erlaubt sind. Das Paar steht außerhalb der Regeln, zusammengeschweißt durch das Empfinden, etwas Besonderes und Exklusives zu teilen. Es entdeckt den Sex völlig neu und fühlt sich im Wissen seiner wagemutigen Kreativität sicher.
Eifersucht entsteht aus der Vorstellung, dass der Partner außerhalb dieses schützenden Mantels sexuelle Handlungen vollführt. Sex mit anderen, die außerhalb des Paares stehen, ist emotional aufgeladen und kulturell geächtet und kann die Illusion der gemeinsamen und kreativen Verletzung der Regeln zerstören.
Die Wirklichkeit drängt sich auf: Solche Ereignisse sind normal und nichts Besonderes; sie sind natürlich, ganz gleich, wie sehr sie verboten sind; die Illusionen, die die Partnerschaft gestärkt haben, werden plötzlich enthüllt. Der eifersüchtige Partner fühlt sich betrogen, getäuscht und auf unfaire Weise in eine emotionale Bindung gezwungen, die auf romantischen Illusionen basiert.
Es mag trivial klingen, aber: Diese Leidenschaften bringen Mord, das Ende von Königreichen und neue Nebenflüsse im Strom der Geschichte hervor. Die allgegenwärtige Macht des Sex sollte niemals unterschätzt werden.
- The Kiss of X, Liebesleben, Lebenslügen
5 / Tödlicher Hunger
Mit fünfunddreißig ist Mary Choy seit dreizehn Jahren als PD tätig – davon zehn in Los Angeles und die letzten drei in Seattle. Für sie ist die Arbeit der wichtigste Faktor in ihrem Leben, aber das könnte sich durchaus irgendwann
Weitere Kostenlose Bücher