Slant
schlafen, tief schlafen, ohne das Traumkind-Vid, das sie häufig benutzt, nur tief schlafen.
Tiefer, bewusstloser Schlaf.
Dann sieht sie wieder diese erschreckende Gesichtslosigkeit. Ihr Atem geht schneller und sie stöhnt. Sie verlässt das Bett und geht in ihrem dünnen Seidenmorgenmantel ins Wohnzimmer, den überflüssigen und schmucklosen Raum, in dem sie nur wenig Zeit verbringt. Jetzt wünscht sie sich, sie hätte überall Kunstwerke an den Wänden, ein Haustier oder einen Freund, mit dem sie reden könnte, doch wie es scheint, wurde sie bisher mehr von ihren Freunden gebraucht, als sie sie gebraucht hat.
Auf einem Regal befinden sich einige Gegenstände, die ihr einen gewissen Trost spenden: ein rosafarbener, alberner Keramik-Pudel, der ihrer Großmutter gehörte; ein altertümliches, zusammenklappbares Rasiermesser, das sie als Teenager von ihrem Vater erhielt, als er erfuhr, dass sie zu Call-ins ging (»damit du dich schützen kannst«, sagte er, »denn das Einzige, was mehr schmerzt als die Vorstellung, was du tust, ist die Vorstellung, dich völlig zu verlieren« – doch sie hat es niemals bei sich getragen); ein Miniaturblumenstrauß aus Plastik; ein Bild ihrer Eltern und ihres Bruders. Sie hat seit Monaten nicht mehr an ihren Bruder gedacht. Sie nimmt das Bild in die Hand und starrt es an.
Auf dem Bild ist Carl elf Jahre alt und sie neun. Carl wusste nie, was er von seiner Schwester halten sollte. Er war ein unkomplizierter, ritterlicher Kerl. Er ging zu den Marines und war an einem Siedlungsversuch auf dem Mond beteiligt, wo er vor fünf Jahren bei einem Druckabfall starb.
Sie stellt das Bild zurück.
Es hat fünf Männer gegeben, die sie heiraten wollten. Das hätte sie Carl gerne gesagt. Sie war keine Versagerin auf dem Heiratsmarkt, es lag nicht an mangelndem Interesse. Sie hat niemals die Notwendigkeit zu heiraten empfunden, ihre Gefühle für die Männer, die es wollten, waren nie stark genug gewesen, mit einer Ausnahme…
Alice will jetzt nicht an diesen einen denken. Sie will ihn nicht in Gedanken neben die Gesichtslosigkeit stellen. Es wäre wirklich nett, jemanden wie ihn hier zu haben, doch wenn er hier gewesen wäre, hätte sie sich niemals auf den Weg zu einem Call-in gemacht.
Schließlich gibt Alice nach und nimmt im kleinen Familienzimmer vor der Bühne Platz. Sie gibt der Anlage den Befehl, sich einzuschalten, und wartet ab, bis die Projektoren ihre Augen gefunden haben. Die leise hallenden Geräusche versetzen sie in einen Eröffnungsraum voller Auswahlmöglichkeiten. Sie entscheidet sich für ein geistloses Linear-Vid, ein Familiendrama. »Wie spät ist es?«
23:31 h blitzt es rot vor ihren Augen auf, über den Gesichtern der Teilnehmer. Sie alle gehören zu einer Familie in den Combs, die mit einem neuen Schwiegersohn zurechtkommen muss, einem Untherapierten, der Verbrennungsmotoren atavistischer Autos für illegale Rennen repariert. Er ist clever, untersetzt und kräftig gebaut, und er gibt witzige, exzentrische, aber kluge Bemerkungen von sich, sodass die therapierten, aalglatten Comb-Familienmitglieder wie unbeholfene Dummköpfe erscheinen. Ein Textfenster teilt Alice mit, dass sie die Show für weitere zehn Dollar in eine Karaoke-Veranstaltung verwandeln kann. »Leben und spielen Sie die gesamte, lebenslange Geschichte! Seien Sie Amanda; lassen Sie Baxter von Ihrem LAG darstellen! Die ganze Geschichte und der doppelte Spaß: verfügbar im direkten Fluss, gemischten Doppel, Weitwinkel mit zufälligen Begegnungen in der ganzen Welt oder in irre-gutem Irregulär! Entdecken Sie Amandas Welt im Vorbeigehen oder als Standbild!«
Der Hausmonitor läutet. Alice hält die Übertragung an und fragt, wer es ist. »Ich bin’s, Twist«, sagt eine Stimme von draußen. »Ich hoffe, du hast noch nicht geschlafen.«
Alice verlässt die Show und bezahlt einen Anteil, statt eine Wiederholung zu bestellen, dann geht sie zur Tür.
Twist tritt von einem Bein auf das andere, die Fingerknöchel zwischen den Zähnen. Ihre Kniescheiben scheinen sich praktisch gegenüberzustehen, knabenhaft und extrem verletzlich. Sie kommt herein, das glatte seidenschwarze Haar windzerzaust, das Gesicht wie bei einem kleinen Mädchen zerknittert. Sie sieht furchtbar aus.
Alice empfindet plötzlich eine überschäumende Erleichterung und Zuneigung zu Twist.
»Mein Gott!«, sagt sie. »Du siehst schlimmer aus, als ich mich fühle. Was ist passiert?«
FLÜSSE
Manche Ideen sind lediglich
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